Im langen Interview mit Günter Gaus im Jahr 1964 erzählte Hannah Arendt, dass sie als kleines Kind „von Hause aus“ gar nicht gewusst habe, dass sie Jüdin war. Ihre gänzlich areligiöse Mutter habe dieses Wort zu Hause gar nicht benutzt, und erst irgendwann sei ihr durch antisemitische Kommentare anderer Kinder auf der Straße dieser Teil ihrer Identität bewusst geworden. Später, in der Schule, war sie dann angewiesen, bei antisemitischen Kommentaren durch Lehrer – meistens gegen osteuropäische jüdische Kinder- den Klassenraum sofort zu verlassen und den genauen Wortlaut ihrer Mutter zu Protokoll zu geben, die sich daraufhin beim Direktor beschwerte.
Ihre Meinung zur zentralen Wichtigkeit der jüdischen Identität festigte sich über die Jahre, schon vor dem Holocaust. Im Interview sagte sie: „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen. Nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt oder der Menschenrechte oder so.“
Und die Nachbarn? Auf welche Art und Weise verteidigt man diejenigen, die anhand ihrer Identität als nicht dazugehörig markiert werden?
In Zeiten des erstarkenden Nationalismus entlang ethnisch homogenisierender Identitätsvorstellungen sind heute nicht nur jüdische, sondern mit ihnen in wachsendem Ausmaße muslimische Europäer_innen vielfachen Angriffen ausgesetzt. In Deutschland reichen diese momentan von der unzulänglichen Aufarbeitung der rechtsextremen Hinrichtungen neun türkisch- und griechisch-deutscher Kleinstunternehmer bis zu täglich etwa zehn rassistisch motivierten Straftaten im Jahr 2016. Muslime und Musliminnen, Enkel und Enkelinnen ehemaliger Gastarbeiter und jene, die sich eine offene und vielfältige Gesellschaft wünschen, schließen sich zusammen und versuchen, der wachsenden nationalistischen Wut etwas entgegenzusetzen. Aber was? Mehr Kopftücher in die Talkshows, mehr religiöse Vielfalt im Schulunterricht, fordern die einen; Abschaffung der Privilegien der alteingesessenen Religionen, kontern die anderen.
Der Ethnologe Arjun Appadurai schrieb vor zehn Jahren ein Buch über „die Angst vor den kleinen Zahlen “ in dem er die Ursprünge sogenannter ethnischer Konflikte untersucht. Er argumentierte darin, dass die liberale politische Theorie ursprünglich Sonderrechte für Minderheiten vorgesehen hatte, die sie als prozedurale und temporäre Zusammenschlüsse von Menschen verstand. Hiermit wollten Denker wie John Stuart Mills und Alexis de Tocqueville politische Systeme vor der „Tyrannei der Mehrheit“ schützen. Nachdem sich dann die europäische Kategorisierung in verschiedene Rassen und Ethnien durch die Kolonialpolitik durchgesetzt und durch Volkszählungen und Landkarten verbreitet hatte, wurden diese Sonderrechte häufig auf sogenannte „substantielle Minderheiten“ übertragen, also auf Minderheiten, die entlang ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit fast unveränderlich festgeschrieben wurden. Statt sich in einem Jahr als ausgebeuteter Bauer für Landreformen und im nächsten als bildungsorientierter Vater für die Einrichtung und Ausstattung von Schulen einzusetzen, wurden Interessen nun langfristig bestimmten ethnisch markierten Minderheiten und Mehrheiten zugeschrieben, und zwar nicht nur von außen, sondern auch durch die Angehörigen dieser als Minderheiten deklarierter Kategorien selbst.
Ähnliche Spannungen zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Selbstrepräsentation von sogenannten Minderheiten sind mir in meiner eigenen Forschung zu öffentlichen Diskursen über Islam in Indonesien, dem weltweit bevölkerungsreichsten mehrheitlich muslimischen Land, begegnet. Dort werden seit der 1998 beginnenden Demokratisierung vermehrt die Angehörigen kleinerer und größerer muslimischer Organisationen, sowie LGBTQ–Muslime angegriffen. Die Vorwürfe lauten, dass sie die Praktiken und Symbole des Islam verwenden, obwohl sie Abtrünnige und damit keine Muslime seien. Diese Anschuldigungen finden sich in verschiedenen Formen, und auf verschiedenen Ebenen. Ein Beispiel ist das Gerücht, dass Angehörige der Ahmadiyya, einer im späten 19. Jahrhundert im damaligen Britisch-Indien gegründeten und nun weltweit tätigen Organisation, das islamische Glaubensbekenntnis (Schahāda) abgewandelt hätten – was einer schweren Beleidigung des Propheten gleichkäme. Dieses Gerücht entspricht nicht den tatsächlichen Praktiken der Ahmadiyya. Tatsächlich sprechen regelmäßig betende Ahmadis das Glaubensbekenntnis fünf Mal am Tag während ihres Gebetes. Doch selbst höchste Politiker befeuern dieses Gerücht regelmäßig, indem sie beispielsweise bei Konvertierungszeremonien ausrufen: „Gott sei Dank, die ehemaligen Ahmadis sprechen das Glaubensbekenntnis!“ Solche Aussagen werden schnell zu Schlagzeilen, und so halten sich Gerüchte, die Ahmadis würden den Propheten beleidigen. Als 2011 ein körperlicher Angriff auf eine Gruppe Ahmadis in West-Java für drei Ahmadis tödlich endete, wurden nicht nur die Täter sehr leicht bestraft, sondern es wurde außerdem das angeblich provozierende Verhalten der Ahmadis herausgestellt und ein als Aufrührer identifizierter für mehrere Monate inhaftiert.
Die Ahmadis haben begonnen, sich dagegen zu wehren, und es lässt sich ein Wandel der Repräsentation von Ahmadis in den Medien beobachten. Es wird deutlich, wie sie zunächst selbst gar nicht zu Wort kamen. Ihre Verteidigung übernahmen stattdessen Menschenrechtsaktivist_innen. Nach der Attacke in West-Java wurden schließlich auch Ahmadis selbst in die Talkshows eingeladen, und nachdem sich eine Handvoll Sprecher herauskristallisiert hatten, wurden deren Perspektiven auch in Artikeln erwähnt. Doch auf welche Art und Weise können sich die Ahmadis verteidigen, welche Argumente werden gehört? Meine Analyse des Diskurses zeigt, dass vor allem zwei Interpretationsschemata dominieren: das Argument der Religionsfreiheit für Minderheiten, und Nationalismus. Beides sind mächtige Diskurse in Indonesien. Meine These ist, dass Menschenrechte und Nationalismus als Rettungsleinen für die diskriminierten und marginalisierten Ahmadis zwar jetzt gerade noch funktionieren, dass aber die starke Reduktion der öffentlichen Diskurse auf nur diese beiden Interpretationsschemata langfristig gefährliche Folgen haben kann. Wie die Politikwissenschaftlerin Elizabeth Shakman-Hurd in ihrem neuesten Buch für den Bereich der Internationalen Beziehungen gezeigt hat, verschließt die Reduktion auf einen dominanten Aspekt der Identität die Möglichkeiten für vielfältige Allianzen. Wenn der Großteil der indonesischen Muslime in den Ahmadis keine Glaubensgeschwister sehen, hängt es von ihrer Akzeptanz der Menschenrechte und der Stärke des Nationalgefühls ab, ob sie den Ahmadis ihr Leben zubilligen. Und davon, ob sie die Ahmadis überhaupt noch als Menschen betrachten. Wie schnell sich Gesellschaften verändern, wie schnell als Gruppen markierte Kategorien aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden können, wissen wir genau. Aus der wackeligen Toleranz anhand eines oder weniger Identitätsmerkmale ergibt sich also die doppelte Gefahr, dass dieses Merkmal in einer Gesellschaft an Wichtigkeit verliert, oder dass die entsprechende Kategorie aus der Gruppe derjenigen herausfällt, die als dazugehörig verstanden werden.
Für die aktuelle Situation in Europa bedeutet das, dass es nicht nur darum gehen darf, das Recht meiner Nachbarinnen auf ihr Anderssein zu verteidigen, sondern zusätzlich immer wieder auch in Frage zu stellen, in welchem Ausmaß dieses Anderssein eigentlich existiert. Der Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan findet, dass europäische Musliminnen und Muslime gar keine Minderheit sind, sondern einfach europäische Bürger. Vielmehr müssen wir also an die Vielschichtigkeit, Temporalität, und Wandelbarkeit von Identitäten anknüpfen, an die Identität als Arbeiterin, als Vater, als Handballspielerin, als Elternsprecher, als Chemikerin. Jenseits von Homogenisierungsphantasien erstarkender Nationalismen und der Zersplitterung in immer kleinteiligere Identitäten müssen Gesellschaften einen Weg finden, spezifische Identitäten anzuerkennen ohne diese der fluiden und immer wieder neu zu verhandelnden Formierung prozeduraler und problem-orientierter Allianzen in den Weg zu stellen.
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