Kleine Fische, tiefe Wasser – die politischen Hintergründe des EU-UK-Fischereikonflikts

, von  Ole Wahls

Kleine Fische, tiefe Wasser – die politischen Hintergründe des EU-UK-Fischereikonflikts
Ihr Fischgründe sind in Gefahr. Französische Fischer*innen auf dem Rückweg zum Hafen in Guilvinev. Unsplash / Thomas Millot / Unsplash Lizenz

Der Fischereisektor offenbart sich seit dem Brexit-Referendum als Sprengsatz in den Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU. Als Protagonisten in dem ausartenden Konflikt stehen sich die Regierungen aus London und Paris am Ärmelkanal wie am Verhandlungstisch direkt gegenüber. Konk-ret geht es um die Frage nach Fischereirechten: Wer darf wie viel in wessen Gewässern fischen? Zwar ist die ökonomische Bedeutung des Fischfangs in Frankreich ebenso wie in Großbritannien gering, doch im Hintergrund schlagen alte Versprechen, Strukturschwächen und Ängste vor Machtverlust hohe Wellen.

Existenzen stehen auf dem Spiel. Auf französischer Seite kämpfen Fischer*innen um den Zugang zu britischen Gewässern und damit um ihr Überleben. Ihre britischen Kolleg*innen suchen derweil nach einem Ausweg aus den finanziellen Nöten, die in ihrer Branche seit Jahren an der Tagesordnung sind. Aber auch zwei mächtige Politiker, Emmanuel Macron und Boris Johnson, dürften sich Gedanken um ihre Zukunft machen, für die der Ausgang des Konflikts nicht unbedeutend ist.

Bereits die Brexit-Verhandlungen drohten kurz vor Weihnachten 2020 an der Fischerei zu scheitern. Bis dahin galten die die Fischbestände vor der Küste Großbritanniens als gemeinsame europäische Ressource, wie auch diejenigen aller anderen Mitgliedsstaaten. Die EU und allen voran Frankreich forderten einen Erhalt dieses status quo nach dem Austritt. Großbritannien pochte dagegen auf deutlich mehr Kontrolle in den eigenen Hoheitsgewässern.

Um einen No-Deal-Brexit in letzter Minute abzuwenden, einigte man sich vorerst auf eine etappenweise Reduktion der Fangmenge für die EU-Staaten. 25 Prozent innerhalb der nächsten fünf Jahre – eine Niederlage für die Brit*innen, die auf 80 Prozent bestanden hatten. Nur wenige Monate nach dem Vertragsschluss kochte der Konflikt schon wieder hoch: Frankreichs Fischer*innen und Politiker*innen warfen der britischen Seite die Unterschlagung von Fischereilizenzen für einige Dutzend französische Boote vor. London begründete die ausbleibenden Lizenzen mit der unzureichenden Vorlage von Dokumenten.

Emotionen statt Profite

Dabei wirkt der Fischfang mit Blick auf die europäischen Volkswirtschaften eher wie eine Sardine im Haifischbecken. Frankreich und Großbritannien zählen zwar neben Spanien und Dänemark zu den größten Fischfangnationen Europas, doch macht die Branche im Vereinigten Königreich und in Frankreich jeweils nur 0,03 Prozent des BIPs aus. Der größte Teil des Fischs für Bouillabaisse und Fish & Chips wird aus dem Ausland importiert.

Viel schwerer als die Wirtschaftskraft wiegt aber die Symbolkraft der Fischerei in beiden Ländern. Für die Brit*innen ist sie eine Erinnerung an die Zeiten, in denen das Vereinigte Königreich als große Seemacht die Meere beherrschte. Auch in Frankreich schwelgt man in Nostalgie bei dem Gedanken an kleine Fischerboote in französischen Häfen. Gleichzeitig wird die Fischerei beiderseits als Sinnbild für das „gemeine Volk“ betrachtet, das sich der Globalisierung und den Folgen der Deindustrialisierung Westeuropas ausgesetzt sieht.

Eine treibende Kraft des Brexits

Einst blühende Hafenstädte wie Grimsby oder Hull zählen heute zu den ärmsten Orten Großbritanniens. Ein Großteil der Küstenregionen, in denen die Fischereiindustrien ansässig sind, sind wirtschaftlich und sozial benachteiligt. Einkommens- und Bildungsniveaus sind gering, die Arbeitslosenquote überdurchschnittlich und die Infrastruktur mangelhaft. Viele Fischer*innen im Vereinigten Königreich machten die EU für den Niedergang der britischen Fischfangindustrie verantwortlich, deren Beschäftigtenzahlen sich in den letzten 50 Jahren halbierte. Eine Woche vor dem Brexit-Referendum schipperten 30 Fischerboote der Fishing for Leave-Kampagne auf der Themse am Palace of Westminster, dem britischen Parlamentsgebäude vorbei. Sie forderten „die Wiederherstellung der Souveränität des Parlaments und des Volkes und damit auch die Rückgabe der Gewässer an die nationale Kontrolle“. Am 23. Juni 2016 stimmten schließlich über 90 Prozent der Fischer*innen für einen Austritt aus der EU.

Augenwischerei & Austerität

Erst als Wortführer der Leave-Bewegung, dann in seinem Wahlkampf um das Premierminister-Amt stellte Boris Johnson den Fischer*innen eine glänzende Aussicht ohne „verrückte“ EU-Regularien in Aussicht. Bei den Brexit-Verhandlungen sah man in der Abhängigkeit vieler europäischer Staaten von britischen Fischereibeständen die Gelegenheit, den Ton angeben zu können. Vom letztlichen Ergebnis fühlen sich viele Fischer*innen in Großbritannien betrogen. Kaum veränderte Fangquoten und erhöhte Transaktionskosten mit EU-Partnern führen dazu, dass es vielen nun noch schlechter gehe als vor dem Brexit.

Doch auch bei einem, aus britischer Sicht positiveren Verhandlungsresultat wäre die Rückkehr ins goldene Zeitalter der Fischerei unwahrscheinlich gewesen. Zunehmende Überfischung und die Folgen der „Kabeljaukriege“ mit Island in den 70ern führten bereits vor dem EU-Beitritt zu großen Ver-lusten in der britischen Fischerei. Auch die auf Basis des britischen Quotenzuteilungssystems geschaffene Konzentration britischer Fischereirechte in den Händen weniger reicher Familien, macht kleineren eigenständigen Fischer*innen das Leben schwer.

Hinter der heutigen Benachteiligung vieler Küstenregion steckt aber nicht nur die finanzielle Instabilität in der Fischereibranche, sie ist auch Ausdruck der jahrelangen Austeritätspolitik Großbritanniens, die im ganzen Land tiefe Furchen hinterlassen hat. Als Reaktion auf die Finanzkrise und chaotische Staatskassen verkündete Premier David Cameron 2010 radikale Sparmaßnahmen. Damit trat er das Erbe Margaret Thatchers an, die dreißig Jahre zuvor eine Politik der Privatisierung und der massiven Kürzungen von Sozialleistungen zum Abbau von Haushaltsdefiziten verfolgte. In der Folge steht man in Großbritannien heute vor einem abgewirtschafteten öffentlichen Dienst, vor einem zusammengebrochenen sozialen Wohnungsbau und vor Sozialhilfeempfänger*innen, die trotz steigender Lebenshaltungskosten über Jahre keine Erhöhung erfuhren.

Die Beschwerden über die wachsende Ungleichheit werden mittlerweile in allen Bevölkerungsschichten Großbritanniens immer lauter. Die missliche Lage der Fischerei schürt dazu den allgemeinen Unmut über die Auswirkungen des Brexits. So mutet das bockige Verhalten von Johnsons Regierung gegenüber der EU und Frankreich wie ein Versuch an, den sinkenden Beliebtheitswerte der amtierenden Conservatives entgegenzuwirken.

Die Gefahr der französischen Rechten

Auch auf der anderen Seite des Ärmelkanals wird den Wahlumfragen in dieser Zeit viel Wert beigemessen, im kommenden Jahr stehen die französischen Präsidentschaftswahlen an. Die größte Konkurrenz für den amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron geht von der rechtsextremen und europakritischen Marine Le Pen sowie dem noch rechteren Éric Zemmour aus. In dieser Situation bei einem Thema mit solch nationaler Symbolkraft wie der Fischerei klein beizugeben, scheint gefährlich.

Ebenso wie in Großbritannien haben auch französische Fischer*innen mit der Überfischung vieler Fischpopulationen schwer zu kämpfen. Während die Spritpreise steigen, werden die Netze immer leerer. Für viele Seeleute an der Nordküste Frankreichs würde ein Fangverbot in britischen Gewässern, die ihnen bis zu 90 Prozent des Fangs bescheren, das sofortige Aus bedeuten.

Schon im Wahlkampf 2017 spielte das Thema deshalb eine große Rolle. Auf einem Fischmarkt in Le Guilvinec versprach Macron den besorgten Anwesenden: „Ich werde das Fischereiproblem zu einer roten Linie in unseren Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich machen“. In den Wahlen präsentierten sich die Nordküste schließlich stark gespalten: Während Macron in der westlich gele-genen Bretagne starke Unterstützung erfuhr, wurde der Nordosten zur Hochburg Le Pens – in Boulogne-sur-Mer, dem größten Fischereihafen des Landes, konnte sie 45 Prozent der Wähler*innen hinter sich versammeln.



Ergebnisse der Wahl 2017: Gelb - Emmanuel Macron, Dunkelblau - Marine Le Pen, Hellblau - François Fillon, Rot - Jean-Luc Mélenchon Foto: Wikimedia Commons / Mélencron / Lizenz


Der Aufstieg des Rassemblement Nationale, welcher vormals nur im Südosten Frankreichs Fuß fassen konnte, erklärt sich zum Teil durch die sozioökonomische Situation der Provinz. Im Nordosten zog die französische Deindustrialisierung hohe Arbeitslosigkeit nach sich. Man musste zusehen, wie sich die wirtschaftliche Dynamik aus den Arbeiter*innenvierteln verabschiedete und der Wohlstand in die Metropolen zog. Die Großstädten nahmen ihre Rollen in den globalen Handelsketten ein, der ländliche Raum baute Stellen ab. Wo die Leute früher im Schiffsbau oder der Kohlegrube arbeiteten, machen sich heute Frustration und Ausländerfeindlichkeit breit. Ein fruchtbarer Boden für Rechtspopulismus.

Von alldem blieb die Bretagne bislang relativ verschont. Zwar keineswegs vermögend, sorgen eine produktive Landwirtschaft und ein florierender Tourismus für finanzielle Stabilität. Sollte der Fischereistreit mit Großbritannien aber zulasten der französischen Fischer*innen ausfallen, würde ausnahmslos die gesamte Nordküste Frankreichs hart getroffen werden – und den Le Pens und Zemmours den Weg ein weiteres Stück ebnen.

Und die EU?

Obgleich der Konflikt um Fischereirechte eine post-Brexit-Angelegenheit ist, und Frankreich wiederholt um Unterstützung seitens der Europäische Union bat, tritt die EU-Kommission in diesem Streit eher zurückhaltend auf. Nachdem die britische Regierung am 10. Dezember 2021 weitere 18 Lizenzen für europäische Boote erteilte, spricht die Kommission vorsichtig optimistisch von einem „wichtigen Schritt in einem langen Prozess“. Derweil fordert Paris eine Einberufung des EU-UK-Partnerschaftsrats und rechtliche Konsequenzen.

Das passive Verhalten der EU kann dabei als strategische De-Eskalation gedeutet werden, denn der Fischereistreit ist mitnichten die einzige post-Brexit Angelegenheit, die für Spannungen sorgt. Zuletzt stand die Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland im Fokus. Um in dieser Region Zollkontrollen zu vermeiden, schreibt das Nordirland-Protokoll im Austrittsvertrag vor, der Teilstaat Großbritanniens müsse sich trotz Brexit weiter an die EU-Produktregelungen halten. Die Umsetzung würde allerdings Grenzkontrollen innerhalb des Vereinigten Königreichs voraussetzen und dem Europäischen Gerichtshof bei Streitfällen Rechtssprechungsgewalt erteilen – zwei Gründe für London, sich dem Protokoll zu widersetzen.

Damit wird die Fischerei-Frage für die EU zu einem Teilproblem im Gesamtpaket der post-Brexit-Konfliktlage, für das es eine Lösung zu finden gilt – eine, die es beiden Parteien ermöglich, sich zum Sieger erklären zu können. Mit Blick auf die kommenden Wahlen in Frankreich und der immer wackligeren Situation Johnsons verliert das Thema so bald nichts von seiner Explosivität.

Dieser Artikel ist der zweite in einer zweiteiligen Serie über den Fischereikonflikt im Ärmelkanal. Im ersten Teil steht das juristische Ausmaß der Auseinandersetzung im Fokus.

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