Kurz erklärt: Was ist die Europäische Grundrechtecharta?

, von  Benedikt Gremminger

Kurz erklärt: Was ist die Europäische Grundrechtecharta?
Panele auf der Konferenz „Making the EU Charter of Fundamental Rights a reality for all“. European Union, 2019 / Aurore Martignoni / Lizenz

Die Europäische Grundrechtecharta ist eine der wichtigsten Verbriefungen von Menschenrechten überhaupt. Sie garantiert den Bürger*innen der Europäischen Union eine ganze Fülle an Rechten, vom Recht auf Leben bis zu einem Recht auf eine gute Verwaltung. Sie ist gleichzeitig ein Wertegerüst für das Handeln der EU und ein rechtlicher Schutzschild der Bürger*innen gegen unzulässiges Handeln der Union. Trotzdem haben weniger als 50 % der Menschen in Europa je von ihr gehört. Was genau ist und besagt die Grundrechtecharta? Welche Rechte sind in ihr enthalten? Und wie und wo können diese Rechte eingefordert werden?

Was ist die Europäische Grundrechtecharta?

Die Grundrechtecharta (GRC) – oder genauer: Charta der Grundrechte der Europäischen Union – ist ein umfassender Katalog an Grund- und Menschenrechten der 450 Millionen Bürger*innen der Europäischen Union (EU). Die Europäische Union und alle ihre Organe und Untergliederungen sind durch diese Charta umfassend verpflichtet (Artikel 51), die dort verankerten Grundrechte zu achten.

Die Grundrechtecharta wurde 2000 in einem Konvent unter der Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog ausgearbeitet und trat 2009 gemeinsam mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft. Sie gilt in allen 27 Mitgliedsstaaten der EU als bindendes Recht.

Wichtig ist, die Grundrechtecharta von anderen Menschenrechtsdokumenten abzugrenzen. Die Grundrechtecharta wird oft mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verwechselt, welche viele ähnliche Menschenrechtsverbürgungen enthält. Während die Grundrechtecharta aber nur in der EU Geltung entfaltet, bindet die EMRK 47 europäische Staaten, darunter auch Russland und die Türkei. Über die Auslegung der EMRK entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)] in Straßburg, eine von der EU unabhängige Institution.

Gleichzeitig steht die GRC parallel zu den nationalen Grundrechten (wie denen des Grundgesetzes). Sie soll diese nicht ersetzen oder mit ihnen konkurrieren, sondern vielmehr um einen weiteren Schutz im EU-Recht ergänzen.

Welche Rechte enthält die Charta?

Die Europäische Grundrechtecharta ist ein relativ modernes Menschenrechtsdokument. Neben klassischen Freiheitsrechten wie dem Recht auf Leben (Artikel 2) oder den Verboten von Folter (Artikel 4) und Sklaverei (Artikel 5) findet sich dort auch ein hochaktuelles Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten (Artikel 8) sowie Rechte zur freien Berufswahl und zum Unternehmer*innentum (Artikel 15 und 16).

Daneben kennt die GRC auch sogenannte ,,soziale Grundrechte“ wie das Recht auf Bildung (Artikel 14) und die Teilhaberechte von Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Behinderung (Artikel 24 bis 26). Die Charta verschreibt sich zudem ausführlich dem Schutz von Arbeitnehmer*innen und kennt ein Recht auf Elternurlaub (Artikel 33) sowie ein Schutzrecht auf soziale Sicherheit (Artikel 34). Dadurch wird der erweiterte Freiheitsbegriff, der der Charta zugrunde liegt, klar deutlich: Freiheit bedeutet nicht nur die Abwehr staatlicher Eingriffe, sondern auch die Möglichkeit, die Chancen einer offenen Gesellschaft tatsächlich nutzen zu können.

Von besonderer Aktualität sind Artikel 18 und 19 der Charta, welche ein Recht auf Asyl und ein Verbot von Kollektivausweisungen statuieren. Seit Beginn der sogenannten ,,Migrationskrise“ sind diese Schutzgewährleistungen gegenüber Flüchtenden erneut in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt. Die aktuelle Situation an der EU-Außengrenze zu Belarus (siehe dazu den Bericht von Yeganeh Orouji auf Treffpunkt Europa) zeigt dabei, dass zwischen den theoretisch garantierten Grundrechten von Asylsuchenden und der tatsächlichen Behandlung durch europäische Grenzschutzbehörden oft noch erhebliche Lücken klaffen können.

Darüber hinaus zeichnet sich die Charta durch moderne Sprache zum Schutz von kultureller, religiöser und sprachlicher Vielfalt (Artikel 23), Schutz der Umwelt (Artikel 37) und des Verbraucherschutzes (Artikel 38) aus.

Der große Haken der Grundrechtecharta

Nach der beeindruckenden Auflistung der garantierten Rechte kommt erst im letzten Abschnitt der Charta der große Haken. Etwas umständlich formuliert Artikel 51 Absatz 1 Satz 1 der Charta:

Diese Charta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.


Was dies im Grunde genommen bedeutet, ist, dass die Charta zwar die EU und ihre Organe umfassend bindet, die Mitgliedsstaaten aber nur in klar eingegrenzten Situationen an sie gebunden sind. So sind die Mitgliedsstaaten nur dann an das Grundrecht auf Datenschutz (Artikel 8) gebunden, wenn sie gerade EU-Recht durchführen (z.B. die Datenschutz-Grundverordnung). Handeln sie hingegen unabhängig von europarechtlichen Vorgaben, sind sie nicht durch Artikel 8 verpflichtet.

Somit bietet die Grundrechtecharta den Bürger*innen zwar gegenüber Handeln der Union weitreichende Schutzrechte. Interagieren sie aber – was viel häufiger vorkommt – nur mit ihrem eigenen Staat, genießen sie nur eingeschränkten Schutz unter der GRC. Dies wird wohl auch einer der Gründe für die niedrige Bekanntheit der Charta bei den Unionsbürger*innen sein. Gerade einmal 42 % der befragten Bürger*innen gaben im Eurobarometer 2019 an, von der Charta gehört zu haben.

Wie und wo kann ich meine Rechte einfordern?

Damit Rechte von schön bedrucktem Papier auch zu Realität werden, müssen sie durchgesetzt werden können. Als bindendes Unionsrecht ist die Grundrechtscharta Teil des geltenden Rechts in den Mitgliedsstaaten. Somit haben alle staatlichen Stellen, soweit anwendbar, auch die Grundrechte der Charta zu achten.

Bei einer Verletzung dieser Rechte kann vor den Gerichten der Mitgliedsstaaten Klage erhoben werden. Diese Gerichte wenden dann auch die Grundrechtecharta an. Zwar können vor nationalen Gerichten nicht direkt Verletzungen der Charta durch die Organe und Einrichtungen der EU geltend gemacht werden. Über sogenannte ,,Vorlagefragen“ zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) kann aber schon dort indirekt die Verletzung von Grundrechten der Charta gerügt werden. Bestehen bei Kläger*innen Zweifel an der Vereinbarkeit einer Handlung mit ihren EU-Grundrechten, kann das zuständige Gericht den EuGH um dessen verbindliche Auslegung der Grundrechte ersuchen und danach eine Verletzung der Grundrechte feststellen.

Bei Verletzungen der Grundrechte durch die Mitgliedsstaaten stehen dagegen grundsätzlich alle Pfade des nationalen Rechtsschutzes zur Verfügung. Aufgrund einer jüngeren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Recht auf Vergessen II) können selbst Verfassungsbeschwerden auf die Grundrechte der Charta gestützt werden.

Seit Inkrafttreten der GRC im Jahr 2009 kam es bereits zu unzähligen Prozessen, in denen Unionsbürger*innen auch Rechte aus der Charta geltend machten. Von Datenschutzbedenken wegen dem Verhalten von Internetgiganten aus den USA über Konflikte über die Meinungsfreiheit in Ungarn bis zur Misshandlung von Migrant*innen an den EU-Außengrenzen haben diese konkreten Fälle die Charta und ihre Grundrechte zum Leben erweckt.

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