treffpunkteuropa.de: Ihr seid Amerikaner*innen, die in Europa leben. Betrachtet ihr euch als Migrant*innen? Wo fühlt ihr euch zu Hause?
Aileen: Sehen wir uns als Migrant*innen? Ja, das würde ich sagen! Wir leben seit fünf Jahren hier, seitdem wir wegen Justins Arbeit hierhergezogen sind. Wir haben hier unbefristete Arbeitsverträge und zurzeit keine konkreten Pläne, zurückzugehen. Wir sind hier, wir leben hier, wir kamen aus einem anderen Land. Das ist die Definition von Migrant*innen.
Justin: Egal ob unser Wohnort permanent oder vorübergehend ist: Wir sind hierhergekommen, wir leben hier, hier ist unser Zuhause. Aber obwohl wir in den USA kein Zuhause haben, würde ich sagen, dass die USA im weitesten Sinne immer noch Zuhause ist, ganz unabhängig von einem bestimmten Wohnort. In den USA steigen wir aus dem Flugzeug und es herrscht ein Gefühl der Vertrautheit, der Zugehörigkeit.
A: Dieses ganze Thema ist aufgrund von COVID-19 sehr aktuell. Normalerweise können wir jederzeit in die USA zurückkehren. Dann konnten wir es plötzlich nicht mehr. Das US-Konsulat verschickte im März E-Mails mit dem Hinweis, dass man unverzüglich ausreisen müsse, wenn man „nach Hause“ in die USA zurückkehren wolle. Und das hat uns verdeutlicht, dass wir hier in Essen schon zu Hause sind.
J: Es war wirklich eindeutig. Ich ziehe es absolut vor, momentan hier zu sein. Hier ist mein Job, hier sind unsere Sachen, hier ist Zuhause.
In den USA und in Deutschland besteht manchmal die Forderung, dass sich Migrant*innen in dem Land, in dem sie leben, „kulturell assimilieren“ müssen. Was denkt ihr darüber? Wie erlebt ihr kulturelle Unterschiede zwischen den USA und Deutschland? Versucht ihr, in kultureller Hinsicht an amerikanischen Gewohnheiten festzuhalten?
J: Es gibt viele Probleme mit dieser Einstellung, die sogar im deutschen Einwanderungsrecht sichtbar ist. Man erwartet, dass Migrant*innen ihre frühere Identität hinter sich lassen, frühere Staatsbürgerschaften aufgeben und sich vollständig assimilieren. Das lehne ich ab. Migrant*innen geben ihre Identität nicht auf; sie erweitern sie! Ich bin immer noch sehr amerikanisch; Viele Dinge, die deutsch sind, habe ich allerdings zu meiner Identität hinzugefügt, seitdem ich hier lebe. Es gibt einige Aspekte, wie die Beachtung des Gesetzes und der Menschenrechte, in denen man assimiliert sein sollte. Es gibt einige grundlegende Dinge, an die man sich anpassen muss. Aber wenn ihr zu Hause eine bestimmte Art von Essen kocht, gebt das nicht auf. Wenn ihr zu Hause eure Sprache sprecht, sprecht sie weiter.
Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob ich hierhergehöre. Ich würde nie sagen, dass ich mich wie ein Besucher fühle, aber ich habe gelegentlich das Gefühl, nicht dazuzugehören, wenn mir Teile des kulturellen Kontexts fehlen oder wenn viel Dialekt gesprochen wird. Abgesehen davon habe ich im Allgemeinen aber das Gefühl, dass ich dazugehöre.
A: Justin hat recht, die Assimilation wird durch das deutsche Einwanderungsrecht gefördert. Die Staatsbürgerschaft kann schneller erlangt werden, wenn eine „außergewöhnliche Integration“ nachgewiesen wird, aber was dieser Begriff bedeutet, ist nicht wirklich definiert. Es kann die Mitgliedschaft in einem Verein oder das Erlernen der Sprache sein. Und kulturell sind wir beide immer noch in erster Linie Amerikaner*innen. Wir sind beide in den USA aufgewachsen. Und es gibt Dinge, die wir vermissen oder die hier anders sind. Zum Beispiel schauen wir immer noch amerikanisches Fernsehen.
J: Es ist ein bisschen eigenartig, weil nicht nur wir amerikanisches Fernsehen schauen, sondern auch alle Deutschen hier. Also ist es nicht wirklich anders. Alle hier schauen auch „Better Call Saul“.
A: Ich muss ehrlich sein; Für „Tatort“ könnten wir uns noch nicht begeistern.
Ihr seid beide Mitglieder von Democrats Abroad, dem Auslandsarm der US-Demokraten. Seid ihr sowohl in Deutschland/Europa als auch in den USA politisch engagiert?
J: Ich habe mich hier in Essen an einem Bürgerentscheid über Fahrradinfrastruktur beteiligt. Ich bin nicht sehr stark involviert, aber ich habe mich ein paar Mal freiwillig gemeldet und ein paar Dinge für die Initiative auf Englisch geschrieben. Die Organisator*innen waren sich nicht sicher, ob ich Unterschriften sammeln durfte, also tue ich es nicht – unterschreiben darf ich definitiv nicht, weil man EU-Bürger*in sein muss. Ich habe mit an diesen Aktivitäten beteiligt, da sie lokal sind und ich daran glaube. Ansonsten habe ich als interessierter Zuschauer das ein oder andere Volt-Meeting besucht.
A: Und die Leute von Volt haben an einigen unserer Aktionen teilgenommen! Sie waren vor zwei Jahren beim Frauenmarsch und dort gab es gemeinsame Interessen. Aber natürlich können wir uns hier überhaupt nicht an den Wahlen beteiligen. Das ist einer der Gründe, warum wir uns weiterhin so für die US-Politik engagieren. Ich glaube wirklich an die Macht der Demokratie. Hier in Deutschland können wir uns auf lokaler Ebene engagieren, aber wir sind auf nationaler Ebene hauptsächlich Zuschauer*innen. Wenn ich hier wählen könnte, wäre ich vielleicht politisch stärker involviert.
J: Darüber hinaus ist es für uns wichtig, in der US-Politik aktiv zu bleiben, da die US-Politik auch hier eine wichtige Rolle spielt. Auch wenn Deutschland unser Zuhause ist, wirkt sich das, was in den USA passiert, auf Deutschland aus. Jede Woche muss ich den Leuten erklären, was in den USA los ist. Das Interesse an und der Einfluss der USA sind Gründe, dort politisch engagiert zu bleiben.
A: Das haben wir auch schon immer so gehandhabt. Wir kommen beide aus politisch aktiven Familien, wir sind mit Wahlwerbung und politischem Engagement aufgewachsen. Nicht politisch zu sein war also keine Option.
J: Aber ich frage mich, was passieren würde, wenn wir noch länger in Deutschland blieben. Wenn wir 35 Jahre hier leben, werden wir dann immer noch in den USA aktiv sein?
Möchtet ihr die deutsche (oder europäische) Staatsbürgerschaft?
J: Wenn ich die deutsche Staatsbürgerschaft zusätzlich erwerben könnte? Ja, das wäre gut. Ich hätte gerne die Option. Wenn wir für einige Jahre in die USA zurückkehren müssten, um beispielsweise kranke Eltern zu betreuen, würden wir vielleicht später nach Deutschland zurückkehren wollen. Ohne Staatsbürgerschaft müssten wir bei Null anfangen. Wenn wir die Staatsbürgerschaft erworben hätten, könnten wir einfach wieder nach Deutschland zurückziehen. Diese Gedanken beschäftigen mich schon.
A: Mehrere Staatsbürgerschaften zu haben bedeutet Sicherheit. Wir stammen beide von Familien ab, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Russland geflohen sind. Der Besitz der US-Staatsbürgerschaft hat das Leben eines der Vorfahren Justins gerettet. Vor allem, wenn die US-Politik so bleibt, wie sie jetzt ist, wäre es wichtig, neben den USA noch einen anderen Ort, ein anderes Zuhause zu haben. Deutschland könnte dieses Zuhause sein. Aber das ist natürlich nicht der einzige Vorteil mehrerer Staatsbürgerschaften.
J: Um noch einmal auf die kulturellen Unterschiede von früher zurückzukommen: Es gab viele weitere Dinge, die mich beunruhigten, weil ich sie nicht ganz verstand, aber ich habe mich daran angepasst. Heutzutage gibt es selten eine Situation, in der ich nicht weiß, was los ist. Deutschland fühlt sich also normal an, ich fühle mich hier zu Hause.
A: Wenn ich jetzt in den USA bin, werde ich im Supermarkt ungeduldig und frage mich, warum es so lange dauert. In Deutschland geht es so viel schneller! Das ist eher eine kleine Randnotiz, aber wenn wir in die USA zurückkehren, haben wir jetzt manchmal das Gefühl, dass wir gewisse Dinge dort nicht verstehen. Sonst war es immer so, dass wir uns wie zu Hause fühlten. Das ist jetzt manchmal etwas anders.
A: Im Moment ist es aber definitiv ausgeschlossen, dass wir die US-Staatsbürgerschaft aufgeben.
J: Ich könnte mir eine Zukunft vorstellen, in der wir das nicht so streng sehen, aber das ist noch ein langer Weg.
Wie beeinflusst es euer Leben hier in Europa, Migrant*in zu sein?
J: Es ist sehr, sehr klar, dass es verschiedene Arten von Migrant*innen gibt. Wir etwa werden oft weitaus besser behandelt als andere Migrant*innen. Essen trennt da sehr scharf: Es gibt ein „Welcome Center“ und eine „Ausländerbehörde“. Das Welcome Center befindet sich in einem schönen Gebäude direkt am Bahnhof, die Leute dort sprechen Englisch, es gibt eine Kaffeemaschine. Die Ausländerbehörde befindet sich Industriegebäude ohne gute Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel. Es gibt einen Sicherheitsdienst und einen Metalldetektor; Englisch sprechen die Mitarbeiter*innen unter keinen Umständen.
A: Die Ausländerbehörde ist völlig anders als das Welcome Center. Wir sind damit vertraut, weil das Welcome Center eingerichtet wurde, nachdem wir hier angekommen sind. Als wir unsere Visa zum ersten Mal bekamen, mussten wir zur Ausländerbehörde, aber weil Justin als Fachkraft nach Deutschland gekommen ist, erneuern wir unsere Visa im Welcome Center. Es ist definitiv ein unfaires System.
A: Es gibt auch eine Menge Privilegien für Weiße. Die Leute gehen davon aus, dass ich viel besser Deutsch spreche, als ich es tue. Einmal war ich im Bus und sie überprüften die Fahrkarten. Ein osteuropäisches Paar hatte keine Tickets; die Frau war schwanger. Die Person neben mir wandte sich an mich und begann sich über all diese Ausländer*innen zu beschweren. Ich versuchte mit meinem englischen Akzent auf Deutsch zu antworten und sie war überrascht, dass ich auch eine Ausländerin war. Als wir 2015 hierherkamen, war ich auf einer Jobmesse in Dortmund. Auf dem Rückweg überprüften sie die Dokumente der Leute im Bahnhof. Da ich eine weiße Frau im Anzug war, überprüfte niemand meine Dokumente, aber ich bemerkte, dass Schwarze Teenager aufgehalten und ihre Dokumente überprüft wurden. Unsere Erfahrung als Migrant*innen ist nicht die gleiche wie die anderer Ausländer*innen.
J: Und selbst innerhalb der Gruppe der Facharbeiter*innen gibt es Unterschiede. Ein jordanischer Kollege von mir geht ebenfalls ins Welcome Center, hat aber immer Probleme. Er bekommt nie etwas beim ersten Versuch, er muss immer erneut vorstellig werden. Ich denke, sie machen es ihm schwer, weil er eine Person of Color ist und seine Muttersprache Arabisch ist. Unsere Erfahrungen als Migrant*innen sind definitiv sehr unterschiedlich. Wir hatten anfangs einige Probleme mit unseren Anträgen, aber das war kein Rassismus, sondern ein Problem der deutschen Bürokratie. Wir mögen Deutschland, auch wenn wir uns manchmal über gewisse Dinge beschweren. Ich glaube, dadurch dass wir uns Beschweren sind wir in Deutschland gut integriert.
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