Leitartikel zum Themenschwerpunkt: Migration in Europa

Migration in ihrer Vielfalt anerkennen

, von  John Grosser

Migration in ihrer Vielfalt anerkennen

Im Jahr 2018 hatte ein Viertel der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Über 13 Millionen Menschen in Deutschland haben eigene Migrationserfahrung. Die Gesichter, die diese Zahlen in der Praxis haben, sind vielfältig: von einem endgültigen Umzug nach dem Erasmussemester bis zu einer Flucht vor Krieg und Konflikt. In den kommenden Wochen beleuchtet ein Themenschwerpunkt aus unterschiedlichen Perspektiven Migration in einem Kontinent, der für einige ein Kontinent ohne Grenzen ist und für andere verschlossen bleibt. Ein Editorial.

Migration ist so vielfältig wie die Menschen, die ihr Land verlassen und woanders eine neue Heimat suchen. Gerade in der Europäischen Union treffen viele Formen von Migration aufeinander: Menschen ziehen in andere Mitgliedsstaaten oder aus anderen Regionen in EU-Länder, um zu studieren, zu arbeiten oder bei Freund*innen, Familie oder Partner*in zu sein. Menschen aus der ganzen Welt zieht es auf der Suche nach neuen Möglichkeiten nach Europa, Menschen aus Konfliktregionen suchen Schutz und Asyl in der Union.

Europäer*innen verbinden Migration nicht mit sich selbst

Dennoch ist die Vielfältigkeit von Migration kaum präsent: Die öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich entweder auf arbeitssuchende oder geflüchtete Menschen und blendet andere Formen der Migration aus oder fokussiert sich auf Menschen, die anders aussehen oder als anders wahrgenommen werden. Kurzum: Der Begriff ist negativ behaftet. Angesprochen auf Migration denkt kaum jemand an den jungen Deutschen, der für seine große Liebe nach Schweden zieht, oder die Französin, die voller Ungewissheit und Hoffnung eine neue Arbeit in Griechenland sucht. Die Selbstverständlichkeit, mit der Europäer*innen über Grenzen hinweg lieben und leben, verdeckt für sie oft die Tatsache, dass es sich dabei auch um eine Form der Migration handelt.

Außerdem wirken Migrationsthemen in Europa oft nur dann relevant, wenn sie in unser vorurteilbehaftetes Bild von Migration passen. Vor einigen Jahren etwa war Migration nach Europa noch in aller Munde: Konflikte in den umliegenden Regionen hatten zahllose Menschen ihrer Heimat beraubt und zwangen mehrere Millionen Menschen zur Flucht nach Europa. Inzwischen sind viele von ihnen entweder angekommen oder werden es niemals tun. Für zahlreiche Europäer*innen ist das Thema Migration daher wieder aus dem öffentlichen Diskurs zurückgewichen: Die Schicksale der Menschen, die geflohen sind oder sich heute auf der Flucht befinden, sind in den Hintergrund gerückt. Ihre Geschichten sind verstummt. Zum einen gibt es immer wieder etwas Neueres und Aktuelleres, über das berichtet und gesprochen werden kann – zurzeit etwa die Corona-Pandemie. Zum anderen sind rechtspopulistische Parteien, die zuvor die Hetze gegen Migrant*innen auf die Tagesordnung setzten, zunehmend darauf angewiesen, auch mit anderen Themen Wähler*innen zu halten.

Eine dauerhafte Herausforderung für Europa

Doch obwohl Grenzen und Migration für viele Europäer*innen weiterhin keine Themen sind, über die sie nachdenken müssen, bleiben sie doch stets aktuell – auch in Zeiten einer Pandemie. Das Coronavirus erreicht vor unseren Augen völlig überfüllte Lager aus Geflüchteten in Griechenland und verstärkt ohnehin existierende Ungleichheiten und Missstände – so auch die Lage von Asyl- und Schutzsuchenden weltweit. Aber das Coronavirus betrifft auch die Migrant*innen unter den Europäer*innen, die sich selbst nicht als solche sehen: Viele innereuropäische Grenzen wurde aufgrund der Pandemie geschlossen, die Selbstverständlichkeit des grenzfreien Europas ist nicht mehr gegeben.

Diese anhaltende Aktualität von Migrationsthemen in Europa und die Vielfalt der sich abspielenden Migrationsgeschichten ist für uns Anlass, in den kommenden Wochen verschiedene Aspekte von Migration aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufzugreifen. Dazu zählt die aktuelle Relevanz migrationspolitischer Themen vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, die historische Entwicklung der Europäischen Migrationspolitik und der europäischen Verantwortung für Fluchtursachen, sowie die zukünftige Bedeutung des europäischen Umgangs mit Migration vor dem Hintergrund des voranschreitenden Klimawandels. Eine Botschaft, die sich in all diesen Beiträgen wiederfinden lassen wird: Nicht nur ist die EU eine Union der Migrant*innen. Auch ist Migration ein stets relevantes Thema – und nichts, das ausschließlich andere betrifft.


Du möchtest zu einem Aspekt dieses Themas recherchieren und einen Beitrag schreiben? Du hast eine Geschichte zu erzählen, die unser Verständnis für die Vielfältigkeit von Migration in Europa erweitern kann? Melde dich bei uns, damit wir dir Informationen zum redaktionellen Arbeiten für treffpunkteuropa.de zukommen lassen. Ansprechpartner für diesen Themenschwerpunkt ist John Grosser.

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