Heute wird Schengen wieder kritisch betrachtet. Aktuelle Entwicklungen wie eine Welle von Flüchtlingen, die Europa ihr Ziel nennt, und sozialökonomische Ungleichheiten zwischen den Ländern haben eine Diskussion zufolge, in der einige die Meinung vertreten, dass jeder europäische Staat zu absoluter Souveränität zurückkehren und damit volle Kontrolle über seine eigenen Grenzen haben sollte – eine national-populistische Rhetorik, der sich auch einige osteuropäische Anführer wie der ungarische Viktor Orbán oder der polnische Jaroslaw Kaczynski bedienen. Im Westen auf der anderen Seite wird dieselbe Diskussion beispielsweise in Frankreich von Marine Le Pen geführt oder in Italien von Matteo Salvini.
Empörung ist eine bekannte, geläufige und beinahe instinktive Antwort auf Krisen und Instabilitäten. Gemeinsame Probleme erfordern jedoch gemeinsame Lösungen. Die Antwort der Europäischen Union auf diese Entwicklung war langsam, manchmal auch ineffizient. Auch wenn es sich lohnt, sich an die Verantwortung der Vertreter der Mitgliedsstaaten zu erinnern, wenn sie im Europäischen Rat zusammenkommen und an die nationale Souveränität appellieren, haben doch eben sie mehr als einmal jegliche Versuche der Kommission sowie des Parlaments, eine gemeinsame Lösung zu erreichen, zerstört.
Bis heute sind 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge in Europa angekommen. Nach den Schätzungen der Europäischen Kommission wird diese Zahl in den kommenden Jahren auf bis zu fünf Millionen steigen. Fünf Millionen gerade angekommene Flüchtlinge in eine Bevölkerung, die aus über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern besteht, zu integrieren, stellt kein allzu großes Risiko dar, wenn man vorige Flüchtlingsbewegungen und Bevölkerungswanderungen der Geschichte im Hinterkopf behält. Es braucht jedoch eine gemeinsame Politik des gesamten Kontinents, beispielsweise die Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten, wie sie Angela Merkel vorgeschlagen hat.
Vergessen wir jegliche europäische Solidarität, so wie es beispielsweise Populisten und Nationalisten tagtäglich tun, werden wir jedoch einen zu hohen Preis dafür zahlen müssen. Der Think-Tank France Strategie, der zur französischen Regierung gehört, schätzt, dass es insgesamt ungefähr 100.000 Millionen Euro für alle Mitgliedsstaaten zusammen kosten würde, wenn jedes Land wiederbeginnen würde, seine eigenen Grenzen zu kontrollieren. Europa abzubauen – denn genau das würde es bedeuten – würde uns mehr kosten, als Europa zu behalten.
Der freie Personenverkehr in Europa ist von Anfang an ein Erfolg gewesen. Schengen hat es ermöglicht, dass das Erasmus-Programm entwickelt wurde, das Schüler-, Jugend-, Azubi- und Studentenaustausche unterstützt und es damit jungen Menschen ermöglicht, für eine Zeit in einem anderen europäischen Land zu wohnen. Auch hat Schengen es zahlreichen kleinen und mittelständischen Firmen ermöglicht, sich und ihre Produkte zu internationalisieren. Nicht zuletzt wurde die Idee, dass die Länder eines Kontinentes sich zusammenschließen, mit mehr oder weniger Erfolg auf andere Kontinente exportiert, wie wir es heute beispielsweise in Lateinamerika und in Südostasien beobachten können.
Europa ist nie perfekt gewesen. Weder seine Politiker, noch seine Verträge. Die Griechenlandkrise ebenso wie die Flüchtlingskrise hat gezeigt, dass die Europäische Union in der heutigen Welt an seine Grenzen kommen wird. Um sie zu erweitern, müssen wir jedoch für ein besseres Europa und für mehr Europa eintreten – und beispielsweise für ein wirklich gemeinsames Programm, das die Außengrenzen schützt (Frontex, bislang sehr unbekannt) und für ein Parlament der Währungsunion. „Wir verbinden keine Staaten, wir verbinden Menschen“, sagte Jean Monnet, nachdem die Römischen Verträge unterzeichnet wurden. Weder die Politiker, noch die Bürger dürfen diese Worte jemals vergessen.
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