2016 war für Polen das erste vollständige Jahr unter der Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS/ECR) seit der Parlaments- und Präsidenschaftswahl 2015. Geplante Reformen riefen unzählige Proteste hervor, welche den öffentlichen und politischen Diskurs sehr bereichert haben. Besonders in den letzten Dezemberwochen, als es um die neuen Mediengesetze ging, erreichten die Proteste ihren Höhepunkt. Und nun: das neue Jahr 2017 nimmt die polnische Bevölkerung dennoch mit den Auswirkungen der PiS-Entscheidungen in Empfang.
Demokratie, wo bist Du?
„Reform“ könnte Polens Unwort des Jahres 2016 sein. Im Verlauf der zwölf Monate kündigte die PiS eine fortlaufende Liste von Reformen und erwünschten Entscheidungen für die polnische Regierung an: Bildungsreformen, neue Mediengesetze, Reformen der Abtreibungsgesetze, Ideen wie die Abschiebung Andersdenkender, …; die Regierung ignoriert das Volk und unterwirft Polen im Alleingang einem erschreckenden Wandlungsprozess. Viele Bürger sehen ein erneutes Zeitalter von Hexenverbrennungen anbrechen.
Der Ruf der PiS (ECR) nach „Reformen“ löste sofort Proteste aus. Die Öffentlichkeit wetterte lautstark gegen jeden der Erneuerungsvorschläge. Frauen gingen mit ihren „Schwarzen Protesten“ gegen die geplante Abtreibungs- und Empfängnisverhütungsbeschränkungen auf die Straße; Lehrer und Eltern demonstrieren anhaltend gegen die Veränderungen im Bildungssystem, wie beispielsweise die Wiedereinführung einer achtjährigen Grundschulzeit und die neuesten Reformen innerhalb der Pflichtlektüre.
Einen Sturm der Entrüstung lösten - online wie offline- die Vorschläge der PiS-Abgeordneten Beata Mateusiak-Pielucha aus, die eine Abschiebung von Anders- und Nichtgläubigen erwogen hatte, sofern sie sich nicht auf die katholischen Werte der polnischen Verfassung einschwören ließen.
Die Opposition besetzte im Zuge einer Haushaltsdebatte sogar über Weihnachten und den Jahreswechsel für dreieinhalb Wochen das Parlament, um gemeinsam mit einigen Journalisten ihren Standpunkt laut und deutlich kundzutun: “Wir wollen freie Medien…”. Die PiS versuchte daraufhin, die Opposition als unberechenbare Aufrührer darzustellen, indem Kaczyński die Besetzung als „Putschversuch“ deklarierte. Sogar das in der Bevölkerung zunächst so glücklich akzeptierte 500Plus-Programm zeigt nun sein wahres Gesicht, da die Bürger endlich bemerken, wie schlecht durchdacht die Ausschüttung des Kinderergeldes darin geregelt ist. Trotz allem zeigen die Proteste jedoch leider immer noch nicht die gewünschte Wirkung, die Regierung setzt ihren Kurs ohne die Zustimmung des Volkes fort.
Opfer für Kaczyński
Fast einhellig herrscht die Meinung: obwohl er keine Position in der Regierung hat, ist Jarosław Kaczyński eine der stärksten politischen Persönlichkeiten in Polen. Der Partei treuer als dem Volk, ist Kaczyński zusammen mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda und anderen Politiker/innen vor allem bekannt für seine rechten Überzeugungen und Ideale. Inzwischen ebenfalls für die endlose Liste von Reformen, die Polen Schritt für Schritt dem Autoritarismus nähern.
Kaczyński ist so tief im katholischen Patriotismus, um nicht zu sagen Nationalismus gefangen, dass seine momentane Überzeugung darin besteht, Wirtschaftswachstum sei die höchste Priorität und rechtfertige jeden Schritt zur Erlangung des erträumten Aufschwungs. Jedoch reicht dies in keinster Weise aus, um der Sorge der Bevölkerung um den wirtschaftlichen Rückgang zu begegnen. Das Wirtschaftswachstum ist von 3.9 % 2015 auf 2.5% im Jahr 2016 gesunken, doch Kaczyński hält daran fest, dass man Opferbereitschaft verlangen müsse, damit die Zukunft des Landes sich verbessern könne. All die Menschen, die sich dagegen zu wehren versuchen sehen Polen vor ihren Augen auseinanderfallen.
Warnungen aus dem eigenen Land
Die Ereigniskette in Polen löste inzwischen Reaktionen der Europäischen Kommission aus, die erstmals ein Verfahren zur Untersuchung der Rechtssaatlichkeit gegen ein Mitgliedsland eingeleitet hat. Warschau jedoch hat die Anfragen der Kommission zunächst ignoriert; PiS-Vorsitzender Kaczyński bezeichnete die Untersuchung im Dezember als „eine absolute Komödie“. Polens mangelnde Bereitschaft, mit der EU zusammen zu arbeiten führte nicht nur innerhalb der EU zu Irritationen, sondern auch in Polen selbst.
Im Dezember nahm Polens „Unabhängigkeitsheld“ Lech Wałęsa zur PiS und ihren Entscheidungen Stellung. Er formulierte sein Misstrauen gegen Jarosław Kaczyński und nannte ihn “gefährlich und verantwortungslos”. Obwohl Wałęsa sicherlich nicht darauf aus gewesen war, sich gegen sein Land zu äußern, hatte er wohl einfach keine andere Wahl. Laut Wałęsa müsse Polen sich den drohenden Konsequenzen der eigenen Missentscheidungen stellen: der Möglichkeit, aus der EU ausgeschlossen zu werden. Im Extremfall könnte Polen nach dem Ende des dreistufigen Untersuchungsverfahrens seiner EU-Stimmrechte enthoben werden, sollten die anderen 27 Mitgliedsstaaten dies einstimmig beschließen. Dieser Ausgang wird jedoch als sehr unwahrscheinlich betrachtet, unter anderem, da Ungarns rechte Regierung angekündigt hat, im Falle einer solchen Entscheidung ihr Veto einlegen zu wollen.
Und was jetzt?
Die Demokratie hat Schaden genommen und Polen wird von einer autoritären Regierung bedroht. Viele, insbesondere junge Leute glauben, dass es in Zukunft besser sei, das Land zu verlassen - um den herrschenden Zukunftsängsten und Problemen besser entgehen zu können. Andere bleiben aktiv, suchen das Gespräch, protestieren und zeigen weiter mit dem Finger auf die Fehltritte der Regierung. Wird die PiS-Partei ihren Kurs halten und das Land gegen den Willen der Bevölkerung verwandeln? Dies ist das Jahr, in dem Polen es herausfinden wird.
Redigiert von: Elisabeth Müller / Grafik: Jonas Hochhaus und Julia Aniśko
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