Polen, ein Land, das eine der schwersten Krisen seiner relativ jungen Demokratie durchmacht, steht wieder im Fokus Europas

Polen: Eine Herausforderung um die Rechtsstaatlichkeit

, von  Lucia Marchetti, übersetzt von Melina Sophie Brandes

Polen: Eine Herausforderung um die Rechtsstaatlichkeit
Die politische und menschenrechtliche Lage in Polen verschärft sich weiter. Foto:Zuza Gałczyńska/unsplash/Lizenz

Das vergangene Jahr war voller Herausforderungen für die Europäische Union, in erster Linie war es der Kampf gegen die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie und die Schwierigkeit, einen gemeinsamen Plan zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Krise zu entwickeln. Diese waren nicht die einzigen Sorgen der Bürger*innen in manchen Ländern, in denen die Demokratie und die Achtung der Bürgerrechte ebenfalls unterdrückt wurden.

Eine Reihe von Hindernissen für die Freiheit der Bürger*innen und Institutionen hat Polen unter dem euroskeptischen Andrzej Duda, einem Parteimitglied von Recht und Gerechtigkeit (PiS), der zur europäischen Familie der Partei der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR) gehört, aufgestellt. Bei den Präsidentschaftswahlen, die ihn im vergangenen Juli als Staatsoberhaupt des Landes erneut wählten, triumphierte er in der zweiten Runde mit 51% der Stimmen. Duda leitet derzeit auch die Visegrad-Gruppe, das kritischste regionale Bündnis in der europäischen Politik.

Pressefreiheit in Gefahr

Das Land belegt in der Rangliste der Pressefreiheit (englisch: Press Freedom Index) 2020 den 62. Platz und verlor damit drei Positionen verglichen zum Vorjahr, eines der schlechtesten Ergebnisse in der Liste innerhalb der Europäischen Union. Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (französisch: Reporters sans frontières, RSF) wirken sich die Bestrebungen der Regierung, die Justiz zu unterwerfen, und die wachsende Tendenz, Meinungsverschiedenheiten strafrechtlich zu verfolgen, immer stärker auf die Meinungsfreiheit der unabhängigen Medien aus. Eine freiheitsgefährdende Anwendung von Artikel 212 des Strafgesetzbuches über Verleumdung, mit der Journalist*innen zu einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr verurteilt werden können, fördert die Selbstzensur der unabhängigen Medien.

Repression des Justizwesens

Das Justizwesen ist einer der Bereiche, in denen Polen von Brüssel am stärksten kritisiert wurde; im Januar 2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, welches zum einen der Regierung erlaubt, Richter*innen mit Geldstrafen oder Entlassungen zu bestrafen, die Justizreformen und Ernennungen für öffentliche Ämter kritisieren, zum anderen Richter*innen jegliche öffentliche Aktivität verbietet, die als politisch gewertet werden könnte. Zusätzlich hatte der Oberste Gerichtshof Polens bereits darauf hingewiesen, dass einige Richter*innen des KRS (Nationaler Rat für das Gerichtswesen), die aufgrund eines 2018 eingeführten Gesetzes direkt von der Regierung gewählt werden, nicht legitim sind. Zu den Aufgaben der Richter*innen der KRS gehört auch die Ernennung von Mitgliedern des Obersten Gerichtshofs, den die Partei Recht und Gerechtigkeit seit Jahren zu kontrollieren versucht. Auch der Europäische Gerichtshof hat in einem Urteil bekräftigt, dass der Vorgang der Ernennung „gegen EU-Recht verstoßen kann“.

Der Einfluss der Kirche

Die direkte Verbindung zwischen Kirche und Politik auf Regierungsebene ist ein weiterer Grund zur Sorge. Die meisten der polnischen Bischöfe sowie einige Priester unterstützen offen die PiS, eine Partei, die traditionelle katholische Werte radikal verteidigt und sich gegen die Freiheit der Frau, gegen Scheidung und gegen LGBTQI-Personen positioniert hat. Im Januar ist eine umstrittene Neufassung des Gesetzes zum Schwangerschaftsabbruch in Kraft getreten; sie verbietet die Abtreibung auch bei Fehlbildungen des Fötus und schafft ein fast vollständiges Verbot der Abtreibung. Derzeit können sowohl der*die Ärzt*in, der*die den Abbruch durchführt, als auch jede*r, der*die der Frau in irgendeiner Weise hilft, die Schwangerschaft zu beenden, strafrechtlich verfolgt werden. Polen hatte bereits eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa; 1993 verabschiedet, ließ es eine Abtreibung nur in Fällen von Gefahr für das Leben der Mutter, Vergewaltigung und eben bei schweren Missbildungen des Fötus zu. Das Gesetz begründet seine Rechtmäßigkeit mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober letzten Jahres, demzufolge es keinen Schutz der Würde des Menschen ohne den Schutz des Lebens geben kann. Die Umsetzung der Gesetzesänderung hatte sich aufgrund der großen Demonstrationen und Proteste verzögert, an denen sich zahlreiche Akteur*innen der Zivilgesellschaft beteiligt hatten: Student*innen, feministische Bewegungen, Organisationen für LGBTQI-Rechte. Die weitere Beschränkung der Fortpflanzungsrechte erzeugt soziale und wirtschaftliche Diskriminierung und stellt einen weiteren Schritt in Richtung Autoritarismus und Einschränkung der Freiheiten der Frauen dar; zwischen 100.000 und 200.000 polnische Frauen pro Jahr sind Berichten zufolge gezwungen, auf illegale Abtreibungen zurückzugreifen oder ins Ausland zu gehen, um dort Hilfe zu bekommen.

Das Tribunal: Ein Weg der Umgehung

Die Unterstützung verschiedener katholischer religiöser Gruppen und politisierter Geistlicher, die der PiS nahestehen, erleichterte sicherlich die Umsetzung dieser schweren Einschränkungen. Die Entscheidung, das Parlament zu umgehen und die Angelegenheit an das Verfassungstribunal zu übertragen, war das entscheidende Element. Tatsächlich besteht das Tribunal zum größten Teil aus konservativen und regierungsfreundlichen Richter*innen, die von der Regierung ernannt wurden, mit jener Reihe von Verfahrenslücken, die auch von der Europäischen Kommission und der Vorsitzenden des Strajk Kobiet (Polish Women’s Strike) Marta Lempart angeprangert wurden: „Die Leute, die an dem“gerichtlichen„Prozess teilnehmen, sind in Wahrheit keine rechtmäßig ernannten Richter“. Was Polens Haltung gegenüber der Europäischen Union betrifft, so stoßen wir auf hitzige Debatten über den Recovery Plan „Next Generation EU“, über den EU-Haushalt 2021-2027 und über die angebliche Ungleichbehandlung, die auch innerhalb der Visegrad-Gruppe selbst zu Unstimmigkeiten geführt hat. Ein Veto in den Verhandlungen des Europäischen Rates wurde von den Regierungen in Budapest und Warschau angedroht, die sich einig sind, Verbindungen zwischen der Bereitstellung von Geldern und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit abzulehnen, mit besonderem Verweis auf die Bedeutung eines unabhängigen Rechtswesens.

Konflikte mit der EU

Die Situation wurde im vergangenen Dezember dank der Schlichtungsbemühungen von Angela Merkel und durch die Verknüpfung der Umsetzung des Konditionalitätsverfahrens an ein Legitimitätsurteil des Europäischen Gerichtshofs entschärft, aber die Sorgen der EU-Institutionen über das Schicksal der demokratischen Rechte bleiben weiterhin bestehen, auch weil andere Länder nicht bereit zu sein scheinen, gegen Polen und Ungarn die Stimme zu erheben. Für den polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki war das Veto eine Äußerung des Widerspruchs gegen die Politik aus Brüssel, die er als oligarchisch und antipolnisch bezeichnete. Für Morawiecki ist die Frage der Rechtsstaatlichkeit in Wirklichkeit ein Propagandawerkzeug gegen die politischen Prioritäten und den politischen Willen der Regierung. Eine Kritik, die fragwürdig erscheint, wenn man bedenkt, dass Polen das Land ist, das in absoluten Werten am meisten von den Fördermitteln aus dem Kohäsionsfonds profitiert, die sich im Zeitraum 2014-2020 auf 2,7 % des BIP (Bruttoinlandsprodukt) pro Jahr belaufen, und Polen zudem das dritte Land darstellt, das nach Italien und Spanien am meisten von der Operation Next Generation EU profitieren wird.

Es scheint, dass es Brüssel derzeit schwerfällt, gezielt einzugreifen. Die Empfehlungen der Kommission und die Beschlüsse des Parlaments sind nicht bindend, und die Aktivierung von Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union, der nur einstimmig im Europäischen Rat verabschiedet werden kann, scheint nicht zum Abschluss zu kommen, weil Ungarn im Rat Polen schützt. Damals hatten etwas zu optimistische Prognosen nicht vorhergesehen, dass die Rechtsstaatlichkeit in zwei Staaten gleichzeitig verletzt werden könnte, was das System faktisch zur Handlungsunfähigkeit verdammt. Eine Reform der europäischen Institutionen in eine demokratische und föderalistische Richtung ist langfristig gerade deshalb notwendig, um dem antiliberalen „ATM Modell“ in Europa, das das Polen unter Duda will, entgegenzuwirken. Ohne gemeinsame, schnell umgesetzte Maßnahmen riskieren wir allerdings, dass das Land die Rechtsstaatlichkeit schon vorher abbaut. Die in den europäischen Verträgen verankerten Rechte sind in Polen mehr und mehr in Gefahr, insbesondere für ethnische und religiöse Minderheiten, die politische Opposition und LGBTQI-Personen. Wir dürfen nicht die Augen verschließen und wegschauen.

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