Mit #JeSuisCharlie hat das alles angefangen. So einen internationalen Erfolg konnte der Franzose Joachim Roncin nicht erwarten, als er am 07. Januar 2015 unmittelbar nach dem Anschlag auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo das Bild mit dem Slogan „Je suis Charlie“ entwarf und es auf seinem Twitter-Account postete. „Ich fühlte mich, als hätte man auf mich geschossen“, berichtet der Artdirector und Journalist des Magazins Stylist in einem Interview, „Das wollte ich mit dem Bild ausdrücken“. Nur eine Minute habe es gedauert, es zu entwerfen. Noch kürzer dauerte es, bis die ganze Welt das Bild kannte und es als Trauer-Hashtag auf allen sozialen Netzen genutzt wurde. Seither ist es in abgewandelter Form zu modischer Solidaritätsbekundung anlässlich zahlreicher ähnlicher Verbrechen geworden. Nach der Redensart „Gut Ding will Weile haben“ sollte man aber in solchen dramatischen Situationen lieber das Gehirn als das Handy einschalten.
70 Millionen Menschen haben den Trauer-Hashtag #PrayForParis in den zwei Tagen nach den Terroranschlägen von Paris und Saint-Denis in der Nacht vom 13. November 2015 gepostet. Wie vorprogrammiert kamen auch die Slogans #PrayForBruxelles für die Terroranschläge am Flughafen und in der Innenstadt der belgischen Hauptstadt Brüssel am 22. März 2016, und #PrayForOrlando für das Attentat in einem Nachtklub in Orlando am 12. Juni. Ganz aktuell sind die Hashtags für das Blutbad an der Strandpromenade von Nizza am 14. Juni und für den Amoklauf im Münchner Einkaufzentrum am 22. Juli.
Ein Attentat gleich ein Slogan. Es kostet weder Zeit noch Mühe, diese paar Buchstaben auf dem eigenen Profil zu veröffentlichen: Eintippen, auf Posten klicken und fertig! Man muss weder über das Thema recherchieren, noch sich eine eigene Meinung zur Situation bilden. Wie Heldentiere folgen einfach Millionen Menschen einander und schreiben die gleichen bedeutungslosen Worte.
Bei jeder dieser traurigen Gelegenheiten frage ich mich, wozu die Leute diese Slogans schreiben müssen. So oberflächlich und unpersönlich wie sie formuliert sind, empfinde ich sie als einfach zwecklos: Einerseits helfen sie keinem Betroffenen, Trost zu finden; andererseits treiben sie keinen Mensch an, ein Gebet zu sprechen. Es würde mich reichen zu wissen, dass diese Leute – sei es auch nur für die 30 Sekunden, die sie brauchen, um das Hashtag zu schreiben und zu posten - tatsächlich für die Opfer und alle Betroffenen beten. Ich fürchte aber, dass ihre Gedanken stattdessen schon bei dem ersten „Gefällt mir“ oder Kommentar sind. Sei es eine bewusste oder unbewusste Vorgehensweise, finde ich diese gemeinschaftlichen Bekundungen eher selbstgefällig als solidarisch gegenüber den Betroffenen.
Gefährlich sind diese Slogans auch, weil sie unbemerkt die Wahrnehmung eines Terroraktes ändern. Sei der Slogan populär, wird der Terrorakt in den Medien stärker beachtet. Daraus fühlt das Publikum mehr Mitleid für die Opfern und das betroffene Land. Ein Beispiel dafür? Jeder von uns konnte alle Terroranschläge mehr oder weniger nennen und beschreiben, die im letzten Jahr in Frankreich und Belgien stattgefunden haben. Könnten wir die letzten Attentate in der Türkei gleich behandeln? Neun Attentate haben vom Juli 2015 bis heute die Türkei erschüttert, dabei sind insgesamt 140 Personen ums Leben gekommen. Ziemlich unbekannt sind auch die häufigen Attentaten, welche Kriegsländer wie Syrien oder Afrika plagen und die viel zu oft von den sozialen Netzen komplett ignoriert werden.
Es liegt in unseren Händen, diese Tendenz umzukehren. Anstatt leere Slogans auf unseren Profilen zu posten, suchen wir hingegen nach interessanten Artikeln und teilen wir sie auf unseren sozialen Netzwerken. Am besten schreiben wir unsere Meinung dazu. Nur damit werden wir uns und unseren Bekannten wertvolle Informationen beschaffen. Wenn wir den Ort des Anschlags besucht haben, posten wir Fotos oder schreiben wir unsere besten Erinnerungen davon. Damit können wir den Betroffenen die Hoffnung geben, dass es irgendwann möglich sein wird, zum gewohnten Alltag zurückzukehren.
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