Nachdem in Deutschland im Jahr 2015 nach langen Diskussionen ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, ziehen bisher viele Ökonom*innen eine positive Bilanz. Horrorszenarien von steigender Arbeitslosigkeit sind nicht eingetreten. Doch ist es sinnvoll, gemeinsame Richtlinien für Mindestlöhne auch auf europäischer Ebene einzuführen? Dafür setzen sich zum Beispiel die europäischen Sozialdemokrat*innen ein, die EU-weit für Mindestlöhne über 60% der jeweiligen nationalen Medianlöhne kämpfen wollen. Ende Oktober 2020 hat Kommissionspräsidentin von der Leyen nun einen Vorschlag präsentiert, der einen europäischen Rahmen für adäquate Mindestlöhne setzen soll. Aber es gibt auch Kritik und Zweifel an Sinn und Wirksamkeit eines europäischen Mindestlohns.
Die Chance auf ein soziales Europa
Die gute Nachricht: Die meisten Mitgliedsstaaten der EU garantieren einen Mindestlohn. Das Schlechte: Dieser ist überwiegend nicht existenzsichernd. Das bedeutet, dass eine alleinstehende Person, die Vollzeit arbeitet nicht ohne zusätzliche staatliche Transfers über die Runden kommt und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dabei verpflichtet sich die EU selbst in Artikel 3 ihres Gründungsvertrags, den sozialen Schutz und Gerechtigkeit zu fördern. Die Einführung eines Mindestlohnniveaus ist somit die Pflicht eines sozialen Europas - wann, wenn nicht jetzt?
Ein europäischer Mindestlohn ist längst überfällig und gerade jetzt wichtiger denn je. Angemessene Löhne können eine Grundlage für eine gerechte und stabile wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Krise sein. Die Krise hat Branchen wie das Gesundheitswesen, den Einzelhandel, die Langzeitpflege oder Heimbetreuung, kurz: die Geringverdienenden, besonders hart getroffen. Wenn die EU es schafft, den Lebensstandard für diese Arbeitnehmer*innen zu verbessern, ist dies ein Zeichen der Wertschätzung, das längst notwendig ist.
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Zudem ermöglicht der Mindestlohn besonders den einkommensschwachen Haushalten mehr zu konsumieren. Wenn die Kaufkraft steigt, dann ist auch ein wirtschaftlicher Aufschwung nach der Corona-Krise wieder möglich. Entscheidend ist deshalb weniger, wie viel der Mindestlohn in Euro beträgt, sondern vielmehr was sich die Beschäftigten von diesem Mindestlohn leisten können. Deshalb ist das Konzept einen Mindestlohn in Höhe von 60% des nationalen Medianlohns für die nachhaltige Stabilisierung der Wirtschaft sinnvoll.
Auch den fairen Wettbewerb kann ein existenzsicherndes Mindestlohnniveau verbessern. In den letzten Jahrzehnten hat sich in der EU ein Wettbewerb entwickelt, in dem die Mitgliedsstaaten versuchen, sich gegenseitig mit niedrigen Löhnen zu unterbieten. Die Verlierer*innen dabei: Die Arbeitnehmenden, die von Armutslöhnen leben müssen. Ein europäischer Mindestlohn kann das sogenannte Lohndumping verhindern und bietet somit den Arbeitnehmenden sozialen Schutz.
Wirtschaftlich ist die Einführung eines Mindestlohnniveaus in der Krise zukunftsweisend. Es ist eine Stabilisierung der Konjunktur zu erwarten und eine Verbesserung des fairen Wettbewerbs. Viel wichtiger ist jedoch, dass der Mindestlohn nicht nur positiv für die Europäische Währungsunion ist, sondern ein Schritt hin zu der sozialpolitischen Union, die in Europa bisher deutlich vernachlässigt wurde.
Die EU, in der wir leben wollen
Arbeiten und trotzdem in Armut leben: So ergeht es 10% der Beschäftigten in der EU. Ein Mindestlohn wird Armut nicht vollständig beseitigen, aber er kann zumindest die Würde der Arbeit sichern, sodass die, die arbeiten auch am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Ich möchte gerne in einer EU leben, die sich aktiv für soziale Gerechtigkeit einsetzt und nicht nur darüber berät, wie sich der Wirtschaftsraum noch mehr liberalisieren lässt.
Die Einführung eines Mindestlohns wäre außerdem ein wichtiger Schritt für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Der Gender Pay Gap beschreibt die Tatsache, dass Frauen in der EU im Durchschnitt 14,1 % weniger pro Stunde verdienen als Männer (Quelle: https://ec.europa.eu/info/policies/justice-and-fundamental-rights/gender-equality/equal-pay/gender-pay-gap-situation-eu_en). Die Ursachen dafür sind vielschichtig. Zum einen pausieren Frauen für die Familiengründung länger ihren Beruf als Männer oder arbeiten häufiger in Teilzeit. Ein weiteres Problem ist, dass Frauen öfter in niedrig entlohnten Branchen, wie beispielsweise dem Gesundheitssektor, arbeiten. Das bedeutet, dass von einem Mindestlohn überwiegend Frauen profitieren, der damit ein klares Zeichen gegen soziale Diskriminierung setzen würde.
Es geht schlussendlich, um die Frage, in was für einer Europäischen Union wir leben wollen. Wir brauchen eine Union, die garantiert, dass niemand in Armut leben muss, die Geringverdiener*innen schützt und soziale Diskriminierung bekämpft. Die Einführung eines existenzsichernden Mindestlohns könnte auf die Zukunft eines sozialen Europas hoffen lassen.
Gut gemeint ist nicht gut gemacht
Die S&D-Fraktion im Europäischen Parlament fordert bereits seit Längerem einen verpflichtenden europäischen Mindestlohn in Höhe von jeweils 60% des nationalen Medianlohns. Doch gut gemeint ist nicht gut gemacht. Die soziale Säule der EU muss gestärkt werden, allerdings wird der Vorschlag seine beabsichtigte Wirkung verfehlen – und im schlimmsten Fall sogar negative Konsequenzen nach sich ziehen.
Mindestlöhne gibt es schon
In 21 EU-Mitgliedsstaaten gibt es bereits einen Mindestlohn. Häufig wird dieser durch Expert*innenkommissionen überwacht und gegebenenfalls angepasst. Die deutsche Mindestlohnkommission beispielsweise wird zu gleichen Teilen sowohl mit Vertreter*innen der Arbeitgeber*innen- als auch Arbeitnehmer*innenseite besetzt und durch wissenschaftliche Expertise ergänzt. Dieses Modell gibt es beispielsweise auch in Ländern wie Irland oder Frankreich.
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Die einzigen Länder, welche keinen nationalen Mindestlohn haben, sind Österreich, Zypern, Dänemark, Finnland, Italien und Schweden. Hier gibt es teilweise eine sehr hohe Tarifbindung. Der europäische Mindestlohn würde in diesen Ländern einen besonders starken Eingriff in die Tarifautonomie bedeuten – weshalb er auch von den skandinavischen Gewerkschaften abgelehnt wird. Ein Mindestlohn ist also zum Großteil bereits in Europa verankert – die nationalen Akteure können die Lage am besten beurteilen. Ein europäischer Mindestlohn würde nicht genügend Rücksicht auf nationale Gegebenheiten nehmen.
Geringer Effekt auf Armut
Ein Argument, welches stets durch die Befürworter*innen von Mindestlöhnen vorgebracht wird, ist, dass diese Armut reduzieren könnten. Allerding ist dieser Effekt bisweilen recht gering. Zwar hat der Mindestlohn in Deutschland dazu geführt, dass viele Arbeitnehmer*innen einen erhöhten Stundenlohn erhielten, ihre Monatsgehälter veränderten sich jedoch kaum. Der Grund: Die Arbeitgeber*innen kürzten ihnen die Arbeitsstunden. Dass selbst ein Mindestlohn von 12 Euro die Situation nicht verbessert, zeigt unter anderem eine Rechnung des Instituts der Deutschen Wirtschaft: 12 Euro im Jahr 2021 entsprächen 2017 etwa 10,80€. Bezieht man diesen Mindestlohn nun auf das Jahr 2017, so hätte sich damals die Zahl der Armutsgefährdeten lediglich um 1,1% reduziert – ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ähnlich sieht es für die EU insgesamt aus: Ein Papier des International Währungsfonds aus dem Jahre 2020 kommt zwar zu dem Schluss, dass ein europäischer Mindestlohn zu einem Rückgang von Armut im Niedriglohnsektor und zu Erhöhungen des durchschnittlichen Einkommens armer Haushalte führen würde, allerdings nur in geringem Ausmaß. Ein möglicher Stellenabbau könnte diese Effekte sogar ins Gegenteil verkehren.
Armutsgefährdet sind insbesondere die Haushalte, die nicht oder nur gering durch den Mindestlohn betroffen wären: Arbeitslose, Rentner*innen sowie Menschen, die in Teilzeit arbeiten und kein weiteres Haushaltseinkommen zur Verfügung haben. Ein weiterer Grund ist die geringe Arbeitszeit. Daher ist eine Politik, die auf diese Probleme abzielt, effektiver als ein europäischer Mindestlohn.
Mögliche negative Beschäftigungseffekte
Die von vielen Ökonom*innen vorausgesagten Jobverluste durch die Mindestlohneinführung 2015 sind in Deutschland geringer ausgefallen als erwartet. Allerdings herrschten auch konjunkturell sehr günstige Bedingungen und in einem nicht unerheblichen Maß wurde der Mindestlohn umgangen. Es ist also fraglich, wie sich ein höherer Mindestlohn in Krisenzeiten auswirkt. Die „Kipppunkttheorie“ geht davon aus, dass ab einer bestimmten Höhe negative Folgen erwartbar sind.
In einer Studie von 2019 verwendeten Forscher*innen des ifo-Instituts ein Modell, das auf nichtlinearen Beschäftigungseffekten beruht: Zum einen führen Mindestlohnerhöhungen dazu, dass Unternehmen weniger Stellen anbieten, gleichzeitig aber erhöhen sie auch den Anreiz für Arbeitnehmer*innen, Jobs anzunehmen. Das Papier kommt zu dem Schluss, dass der Mindestlohn in Deutschland nahe am Optimum liegt und deshalb die Effekte so gering geblieben sind. Bei 12 Euro ist jedoch eine deutliche Beschäftigungsreduktion zu befürchten.
Fazit: Potenzielle Risiken und bessere Alternativen
Abschließend lässt sich sagen, dass eine Beurteilung des Mindestlohns auch immer die Risiken einbeziehen sollte. Der Vorschlag der S&D-Fraktion ist in seiner Wirkung nicht nur recht ineffektiv, er birgt auch das Risiko von Arbeitsplatzverlusten. Die Festlegung von Mindestlöhnen sollte in Einzelfällen regional- und branchenspezifisch erfolgen – nämlich dann, wenn die Sozialpartner keine ausreichende Einigung erzielen können. Daher ist der aktuelle Vorschlag der EU-Kommission, die Tarifbindung in den Mitgliedsstaaten zu stärken und somit angemessene Löhne sicherzustellen, auch vollkommen richtig. Eine darüber hinausgehende Einmischung der EU beim Thema Mindestlohn ist jedoch nicht zielführend. Denn die wirkmächtigsten Instrumente zur Vermeidung von Armut bleiben weiterhin staatliche Transferzahlungen sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen. Es braucht daher gute Rahmenbedingungen für ein dynamisches Wirtschaftswachstum – dazu gehören beispielsweise auch mehr Investitionen in Bildung und innovative Technologien im Rahmen des EU-Haushalts.
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