Als der achtzehnjährige Władysław T. Bartoszewski vor dem Tor mit der geschwungenen Aufschrift „Arbeit macht frei” steht, glaubt er zunächst sich in einem Arbeitslager eines Industriebetriebs zu befinden. Es ist der 22. September 1940 als er mit einem der ersten Transporte polnischer Häftlinge aus Warschau ankommt. Das KZ Auschwitz befindet sich in dieser Zeit noch im Aufbau. Die Insassen sind vorrangig Polen. Auf die Frage wo sie sind, hören die Neuankömmlinge: „In Auschwitz.“ „Was ist Auschwitz?“ - „Na, Oświęcim.” - „Und was ist hier?” - „Ihr werdet schon sehen.”
„Es gab unterschiedliche Kreise der Hölle und unterschiedliche Erfahrungen“
In den 199 Tagen bis zu seiner Entlassung durchlebt Bartoszewski als Angehöriger des Jugendblocks und später im Krankenbau das KZ Auschwitz. Lediglich einen Ausschnitt über die Geschichte des Lagers könne er erzählen, schreibt Bartoszewski in dem Gesprächsband „Mein Auschwitz“. Und dies läge nicht nur an dem begrenzten Zeitraum seiner Lagerhaft: „Alle Häftlinge waren in ein und demselben Auschwitz, doch gleichzeitig war jeder in seinem ganz eigenen. Es gab unterschiedliche Kreise der Hölle und unterschiedliche Erfahrungen.“ Die Unterschiede in der Behandlung der Häftlinge erfährt er beispielsweise im Kontakt mit Angehörigen der Strafkompanie, die unter ständiger Misshandlung eines SS-Mannes Schwerstarbeit bei der Planierung des Appellplatzes leisten. In die Strafkompanie wurden zu dieser Zeit vor allem Priester und Juden eingewiesen.
Zwei Jahre später, im Jahr 1942 entgeht Marek Edelman – ebenfalls Warschauer und wie Bartoszewski erst Anfang zwanzig – der Deportation und der Ermordung in den Gaskammern. Als Mitglied des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbunds (Bund) schließt er sich dem jüdischen Widerstand an. Innerhalb der Jüdischen Kampforganisation ZOB übernimmt er schnell Führungsaufgaben und wird der letzte Befehlshaber während des Aufstands im Warschauer Ghetto 1943. Auf eine Glorifizierung des Widerstands legte Edelman, der nach 1945 weiterhin in Polen lebte keinen Wert: „Ich persönliche denke, dass all jene, die in die Gaskammern gingen nicht weniger heroisch handelten als jene, die mit Waffen kämpften.“
Nach seiner Entlassung aus dem KZ – ein seltener Glücksfall – zieht sich Bartoszewski nicht in Apathie zurück. Schon kurz nach der Rückkehr ins Elternhaus in Warschau setzt sich ein Impuls durch: Zeugnis ablegen, die Erinnerung bewahren. Weil seine Hände wegen den im Lager zugezogenen Erkrankungen noch in Bandagen sind, diktiert er seiner Freundin Hanka die Erlebnisse in Auschwitz. Die Aufzeichnungen fließen ein in die erste Broschüre, die über Auschwitz informiert und im polnischen Untergrund von Hand zu Hand geht.
Bartoszewski wird Teil des politischen Widerstandes gegen die deutschen Besatzer, der in Polen ein weitverzweigtes Netz bildet. Während des Aufstandes im Warschauer Ghetto 1943 wird er Mitglied der Hilfsorganisation Zegota, die sich für die Rettung von Juden einsetzt. Für seinen Einsatz wird ihm später der Titel Gerechter der Völker der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem verliehen. Als Mitglied der Polnischen Heimatarmee nimmt er 1944 – mit gerade einmal 22 Jahren - am Warschauer Aufstand teil. Die deutsche Wehrmacht schlägt den Aufstand blutig nieder und hinterlässt die polnische Hauptstadt völlig zerstört zurück.
Nach dem Krieg sucht Marek Edelman zunächst nicht die Öffentlichkeit. Er studiert Medizin in Lodz und arbeitete als Kardiologe. Während der antisemitischen Kampagnen in Volkspolen 1968 wird er aus dem Krankenhaus und aus der Universität Krakau ausgeschlossen. Er bleibt trotzdem in Polen. Still bleiben kann er angesichts des politischen Streits um die Erinnerung nicht. Die politisch instrumentalisierten Gedenkveranstaltungen des kommunistischen Regimes boykottiert er. Erst als 1988 die demokratische Opposition den 45 Jahrestag des Aufstands im Ghetto begeht, wohnt er mit Stolz einer der größten freien Demonstrationen seit Verhängung des Kriegsrechts bei. Demokratien müssten sich daran messen lassen, wie sie mit Minderheiten umgehen, erinnert Marek Edelman in einer Rede vor dem europäischen Parlament in Straßburg 1994. Zehn Jahre später erlebt er, wie Polen Mitliedstaat der Europäischen Union wird.
Lebendige Erinnerung, Verantwortung übernehmen für die Gegenwart
Zeugnis ablegen, die Erinnerung bewahren. Diese Motive haben Marek Edelman und Władysław T. Bartoszewski in ihrem langen Leben begleitet. Gleichzeitig waren beide Persönlichkeiten, die sich ganz den Herausforderungen der Gegenwart stellten. Beide engagieren sich in der Gewerkschaftsbewegung Solidarność, deren Massenmobilisierung entscheidenden Einfluss auf den Fall des Eisernen Vorhangs hatten. Nach der Verhängung des Kriegsrechts landen beide 1981 in den Gefängnissen der polnischen Staatssicherheit – für Bartoszewski das dritte Mal, die insgesamt sechs Jahre zwischen 1946 und 1954 eingerechnet.
Nach der samtenen Revolution wird Wladyslaw T. Bartoszewski Außenminister in zwei Regierungen. Zuletzt ist er mit 96 Jahren noch tätig als Staatsminister in der Regierung Ewa Kopacz. Ein besonderes Anliegen in seinem Leben: die deutsch-polnischen Beziehungen. Vergebung zu üben und die Deutschen wegen der Verbrechen im zweiten Weltkrieg nicht kategorisch zu verurteilen ist kein leichtes Unterfangen. Deutliche Kritik übt Bartoszewski an den Plänen Erika Steinbachs (damals CDU) für ein „Zentrum der Vertreibung“.
Großer Mut und kleine Geister
Doch bereits im Jahr 1943 setzte bei dem jungen Bartoszewski ein Umdenken ein. Als Warschau noch zwei Jahre deutscher Besatzungsherrschaft vor sich hat setzt er sich mit anderen Aktivisten im Untergrund für die Veröffentlichung des Gedichtes „Gebet“ von Leonia Jablonkowa ein, einer Jüdin, die sich während der Besatzung verstecken musste. Dort heißt es unter anderem: „Herr, rette die Frauen und Kinder / Aus den brennenden Flammen Hamburgs. […] Bewahre in den Kapitalen des Feindes / Die hochragenden gotischen Kirchen […] Gib Kraft, gib Siegesfreude / Doch reiße den Hass aus unserer Seele.“
Wie kleingeistig sind angesichts dieses Großmuts die Versuche der deutschen Rechten, den „alliierten Bombenterror“ ins Zentrum der Erinnerung zu rücken. Wie abwegig eine „180 Grad Wende in der Erinnerungspolitik“ zu fordern. Das Gerede um „Schande“ und „Scham“, die den Deutschen angeblich heutzutage abverlangt würde, der „aufrechte Gang“, der wiederhergestellt werden müsste: dies sind Einbildungen der deutschen Rechten, die sich zwanghaft in der Rolle des Opfers sehen will. Opferrolle rückwärts. Ein selbstmitleidiges Schauspiel, das fast amüsant sein könnte, wenn nicht so erschreckend viele diesen verdrehten Erzählungen folgen würden.
Dass den Deutschen heutzutage von den europäischen Nachbarn fortwährend Sühne und Buße abverlangt wird, ist eine selektive Wahrnehmung. Häufig ist es allein die nachvollziehbare Hoffnung, dass die Deutschen aus der Geschichte die richtigen Schlüsse gezogen haben. Das Moralisieren war auch nicht Bartoszewskis Fall. Als ich ihn 2014 bei einem Zeitzeugengespräch in der Topographie des Terrors, der Gedenkstätte am Standort der früheren Gestapozentrale erlebte, übertrug sich sein Optimismus und Humor auf den ganzen Saal. Während ihn der Journalist und Historiker Basil Kerski auf die Problematik des Gedenkens ohne Zeitzeugen ansprechen wollte, sprach Bartoszewski lieber von seinen Zukunftsplänen und seinem neuen Buch, dass er noch herausbringen wollte. Die deutsche Übersetzung, „Mein Auschwitz“ ist 2015 nach dem Tod von Władysław T. Bartoszewski erschienen. Die Biographie „Marek Edelman erzählt“ erschien 2009 auf Deutsch, im gleichen Jahr verstarb der Protagonist. Sie haben Zeugnis abgelegt. Wir brauchen nur die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.
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