Bulgarien: Ein Tag mit Médecins du Monde in Nadejda

, von  Aria Ribieras, übersetzt von Tom Pascheka

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Bulgarien: Ein Tag mit Médecins du Monde in Nadejda
Eine Gesundheitsberaterin spricht im Viertel Nadejda (Sliwen, Bulgarien) mit einer jungen Romni. © Aria Ribieras / treffpunkteuropa.de zur Verfügung gestellt

Durch den EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens im Jahr 2007 sind die Roma mit 8-10 Millionen Menschen zur größten ethnischen Minderheit in der EU geworden. Ihre Integration erweist sich als eine der größten Herausforderungen für Bulgarien. Aria Ribieras, Redakteurin bei Le Taurillon, der französischsprachigen Schwesterzeitschrift von treffpunkteuropa.de, hat sich in das Roma-Viertel Nadejda in Sliwen begeben und dort eine Organisation getroffen, die für die Rechte der dort lebenden Gemeinschaften kämpft.

Zwischen Licht und Schatten

Im bulgarischen Sliwen ist die internationale humanitäre Hilfsorganisation Médecins du Monde (MdM) in Nadejda tätig, einem Viertel, das von einer langen Mauer umgeben ist, die vier verschiedene Gemeinschaften umfasst: Türk*innen, Musiker*innen, Vlaho und Gradetski. Laut der Stadtverwaltung von Sliwen lebten bei der letzten Volkszählung im Jahre 2011 11.730 Menschen in Nadejda. Heute sind es zwischen 20.000 und 25.000. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist ein besonders heikles Thema für die Gemeinschaften: Mehr als 50% der Menschen besitzen keinen Sozialversicherungsschutz.

Wie soll das Gleichgewicht zwischen sexueller Gesundheit und Traditionen ausfallen?

Médecins du Monde hat das Projekt „Prévention des grossesses non-désirées, parmi les populations vulnerables à Sliven“ („Prävention ungewünschter Schwangerschaften der bedürftigen Bevölkerung Sliwens“) ins Leben gerufen, um an der Senkung der Sterblichkeits- und Erkrankungsrate von Müttern mitzuwirken, die aktuell eine der höchsten in Europa ist. So betreibt MeM, das seit 2004 in dem Viertel aktiv ist, ein Informations- und Orientierungszentrum zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Der Hintergrund: Ins Krankenhaus von Sliwen kommen regelmäßig junge Mädchen im Alter von zwölf bis 17 Jahren, um entbunden zu werden. Und obwohl Abtreibungen in Bulgarien legal sind, sind sie teuer und dadurch unzugänglich für die Mehrheit der Bewohnerinnen von Nadejda. Im Informations- und Orientierungszentrum werden sie hinsichtlich der Wichtigkeit von Familienplanung sensibilisiert und über ihren Anspruch auf Leistungen des staatlichen Gesundheitswesens informiert. Ebenso haben sie die Möglichkeit, gratis Empfängnisverhütungsmittel (Spirale, Pille, Kondom) zu bekommen.

In Nadejda besteht das Team von MdM aus drei Gesundheitsvermittler*innen, die selbst aus den Gemeinschaften stammen, einem Projektkoordinator und der Direktorin. Sie schildern Le Taurillon die Problematiken, mit denen die NGO in diesem Gebiet zu kämpfen hat. „Die jungen Mädchen verlassen sehr früh die Schule, so mit elf oder zwölf Jahren. Die Schule stellt jedoch einen Schutz dar, es besteht ein geringeres Risiko gestohlen zu werden.“

Der Ausdruck „gestohlen werden“, der in den Gesprächen immer wieder auftaucht, enthüllt eine große Angst der Familien. Obwohl es tatsächlich eher selten dazu kommt, beeinflusst diese Tat das Bild von der Lebensweise der Roma-Gemeinschaften enorm. Wenn ein Mädchen gestohlen wird, erleidet es meistens physische Gewalt und wird vergewaltigt, bevor es der Familie „zurückgegeben“ wird. In den Gemeinschaften ist die Jungfräulichkeit nach wie vor heilig und ein Mädchen, das sie verloren hat, wird für eine Hochzeit nicht mehr „gewollt“, und genau davor fürchten sich die Familien. Die Hochzeit wird daher zu einem „Verkaufsgeschäft“ junger Mädchen, die gezwungen werden zu heiraten, um den Entführungen zu entkommen. Obwohl Mädchen und Jungen in Bulgarien mindestens 16 Jahre alt sein müssen, um heiraten zu dürfen, werden zahlreiche junge Mädchen bereits mit 12 oder 13 Jahren verheiratet.

„Nach der Hochzeit kommt dann bald schon das erste Kind, denn in den Augen der Gesellschaft ist ein Kind ein Muss für ein junges Paar. Die junge Frau zieht zu ihren Schwiegereltern. Die Schwiegermutter erlangt dadurch eine neue Herrschaftsmacht in der Familie. Diese Situation ist für die jungen Ehefrauen, die zum Sündenbock der Schwiegermutter werden, oft sehr schwierig.“

Das Team erzählt, dass sich in letzter Zeit hinsichtlich der Familienplanung zwei Trends abzeichnen: Erstens versuchen die Mädchen, nach den ersten zwei oder drei Schwangerschaften ihre Schulausbildung in Form von Abendkursen wieder aufzunehmen, und zweitens vergeht mehr Zeit zwischen den einzelnen Schwangerschaften. Diese Trends sind auch das Ergebnis der Aufklärung über die korrekte Benutzung von Empfängnisverhütungsmitteln mit der Spirale als beliebteste Methode, einer Bewusstwerdung der wirtschaftlichen Vorteile einer Wiederaufnahme der Schulausbildung von Frauen im Haushalt, und eines wachsenden Verständnisses der Probleme, die bei dicht aufeinander folgenden, unkontrollierten Schwangerschaften auftreten können. Das Team von MdM arbeitet tagtäglich mit den verschiedenen Gemeinschaften zusammen und baut ein Vertrauensverhältnis mit den Bewohner*innen auf. Wenn die Gesundheitsvermittler*innen in den verschiedenen Zonen des Viertels auf „Kundschaftssuche“ sind, werden sie von den Frauen und den Familien direkt angesprochen. Die Vermittler*innen vereinbaren Termine für die Weiterbetreuung von Frauen, die Empfängnisverhütungsmittel erhalten, und informieren sich über den Gesundheitszustand von anderen. Diese Vorgehensweise wird von der Organisation durch Informationsveranstaltungen für Gruppen von Frauen, Männern und jungen Erwachsenen aus allen vier Gemeinschaften ergänzt.

„Wir mussten viel Öffentlichkeitsarbeit leisten, damit einige Frauen unsere Informationsveranstaltungen besuchen konnten. Manchmal ließen ihre Ehemänner sie nicht gehen. Wir mussten dort auch schrittweise mit den Inhalten und Erklärungen umgehen, denn manche Frauen waren am Anfang extrem verlegen, z. B. bei der Handhabung eines Kondoms. Jetzt versuchen wir, die Jüngsten zu erreichen, die in puncto Fortpflanzungsgesundheit am empfindlichsten sind.“

Eine der Krankenschwestern, die zuvor in der Verwaltung gearbeitet hat, versichert, dass sie, seitdem sie bei MdM arbeitet, tatsächlich den Eindruck habe, Dinge ändern zu können, „ein Mitspracherecht zu haben und ihre Meinung frei äußern zu können.“

Bevor wir uns in das Viertel Nadejda begeben, treffen wir Pepa Chilikova, stellvertretende Bürgermeisterin und Beauftragte für Gesundheitspolitik in Sliwen, die daran erinnert, dass die kostenlosen Empfängnisverhütungsmittel, die die Frauen aus Nadejda im Zentrum von MdM finden können, von der Stadtverwaltung gestellt werden. Ein Zentrum für Sozialdienste ist ebenfalls eingerichtet worden. Psycholog*innen stellen sich dort den Gemeinschaften zur Verfügung. Die Bewohner*innen des Viertels haben jedoch erst dann ernsthafte Veränderungen erlebt, als vor einigen Jahren ein Vertreter von Nadejda in die Stadtverwaltung gewählt wurde. Die einzige „Grünfläche“ des Viertels, die aus ein paar verkümmerten und von der Sonne verbrannten Bäumen besteht, wurde während seines Mandats gebaut.

In den Straßen von Nadejda

Auf dem Weg in das Viertel Nadejda, das eine lange, während des Kommunismus errichteten Backsteinmauer umringt, um das Viertel vor dem direkt nebenan vorbeifahrenden Zug „zu schützen“, berichtet der Koordinator von zwei weiteren Plagen, die in dem Viertel wüten: „Drogen, z. B. Heroin, sind vor ungefähr fünf Jahren hierher eingeführt worden. Die Polizei weiß davon und verheimlicht das. Früher haben die Leute Klebstoff geschnüffelt. Die Gewalttaten und Gesundheitsprobleme, die auf Drogen und Alkohol zurückzuführen sind, stellen ein ernsthaftes Problem im Viertel dar.“

Er fährt fort: „Dann gibt es noch die Kreditgeber, die von der prekären Situation der Familien profitieren. Sie verleihen Geld unter der enormen Zinsrate von 100%, behandeln die Menschen wie Sklaven und drohen ihnen an, ihnen ihre Häuser wegzunehmen, sollten sie die Zinsen nicht zurückzahlen.“

Der erste und gleichzeitig reichste und sauberste Teil des Viertels ist das türkische Viertel. Einige Bewohner*innen gehen ins Ausland, z. B. nach Frankreich oder Deutschland, um dort zu arbeiten, ihrer Familie Geld zu schicken, und nach ihrer Rückkehr diese Häuser zu bauen. Die Häuser sind groß und werden manchmal von vergoldeten Gitter- und Stacheldrahtzäunen geschützt . Nicht selten sieht man luxuriöse Autos, „das wichtigste Zeichen sozialer Unterscheidung.“

Mit jedem Schritt verändert sich das Viertel, der Zement auf der Straße verschwindet, die Straße verwandelt sich in eine immer schmaler werdende Schotterpiste. Die Gebäude aus nacktem, schwarzem Backstein kommen hinter den imposanten Häusern der türkischen Gemeinschaft zum Vorschein. Wir sind im Gebiet der Musiker*innen. Einer von ihnen mit nacktem Oberkörper, schwarzer Brille und Goldzähnen ruft uns zu: „Wo kann ich in Frankreich spielen? Kennen Sie eine Diskothek, wo bulgarische Musik aufgelegt wird?“ Wie die Türk*innen gehen einige Musiker*innen zum Arbeiten ins Ausland und schaffen es, ihrer Familie Geld zu schicken. Doch die Mehrheit der Bewohner*innen des Viertels lebt von kleinen Jobs in den Fabriken der Umgebung, an Lebensmittelständen, in der inoffiziellen Müllentsorgung und vom Wiederverkauf von recycelbaren Materialien oder auch von Saisonarbeit und dem Sammeln von Nüssen.

Oftmals wird die Truppe in den weißen Kitteln von Bewohner*innen angehalten, die die Verschmutzung der Straßen und die mangelnde Hygiene kritisieren. Keine einzige städtische Behörde fühlt sich für die Entsorgung des Mülls, der sich in den Winkeln anhäuft und widerliche Gerüche freisetzt, verantwortlich. Es wimmelt von Fliegen und Ratten, und die Geschichten von Kindern, die von „gigantischen“ Ratten gebissen wurden, hört man täglich. Müllsammelfahrzeuge können jedoch unmöglich auf den engen und versandeten Straßen bis in diesen Teil des Viertels vordringen. Das gleiche gilt für Krankenwagen.

Der Zugang zu Trinkwasser ist ebenso problematisch. Das Leitungswasser ist für zwei oder drei Stunden am Morgen verfügbar, dann erst wieder am Abend. Die Qualität ist allerdings nicht gut, was dazu führt, dass zahlreiche Kinder an Durchfall leiden. Auf dem Gebiet der Vlaho-Gemeinschaft stapeln sich die Häuser genauso übereinander wie die Menschen: Mehr als 50 Personen aus drei Generationen leben oft zusammen unter einem Dach. Einige Meter entfernt qualmt die Müllhalde in der Hitze. Schmutzige Kinder, deren Kleidung mit Flecken von Erde übersäht ist, rennen in Plastiksäcken umher. Hier leben die „nackten Zigeuner*innen“, die ärmsten Bewohner*innen Nadejdas. Hier kommt auch am meisten Gewalt vor.

Der lange, dunkle Tunnel, der Nadejda mit der Stadt verbindet, führt unter der Eisenbahnlinie hindurch. Dunkle, unbekannte Silhouetten begegnen sich dort auf ihrem Weg in das eingemauerte Viertel oder aus ihm hinaus. Auf die Frage „Wovon träumt ein Kind aus Nadejda?“ bekommt man von den Bewohner*innen immer die gleiche Antwort zu hören: „Davon, das Viertel zu verlassen und sich anderswo seine Zukunft aufzubauen.“ Aber wie kann man die Lebensstile, die Formen der Nutzung städtischen Raums und die oftmals von den Normen europäischer Stadtgesellschaften abweichenden Praktiken verstehen und miteinander vereinbaren? Wie kann man Verbindungen zwischen der bulgarischen Bevölkerung und den Roma-Gemeinschaften knüpfen, wenn doch beide Seiten seit Jahrzehnten negative Vorurteile gegeneinander haben und sich gegenseitig diskriminieren? Lösungen bilden sich bereits in einigen Vierteln heraus und es gibt Menschen, die mit Leidenschaft über neue Integrationsmodelle für diese europäische Gesellschaft am Rande Europas nachdenken.

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