Themenschwerpunkt: Migration in Europa

Rückholaktionen: Jede Nation ist sich selbst am nächsten

, von  Aleš Janoušek, Niclas Hüttemann

Rückholaktionen: Jede Nation ist sich selbst am nächsten
Viele Menschen sitzen wegen des Coronavirus hinter Grenzen fest. Foto: pixabay / Skitterphoto / pixabay license

Ein neues Konzept, das vor allem während der Corona-Krise eine erhöhte Nutzung erfahren hat, sind Rückholaktionen für Staatsbürger*innen vieler Länder. Die überstürzten “Rettungsmissionen” nationaler Regierungen haben jedoch einen Mangel an europäischer Solidarität offenbart.

In der Corona-Krise haben die Nationalstaaten der Europäischen Union nicht gerade ein solidarisches Bild abgegeben. Das wissen wir nicht erst, seitdem der polnische Zoll Schutzmasken, die eigentlich für Italien gedacht waren, zurückhielt. Tschechien, so der dortige Oppositionspolitiker Lukáš Lev Červinka (Piratenpartei), soll ebenfalls Hilfsgüter aus China, die für Italien gedacht waren, beschlagnahmt haben. Zwar wurde dieser Vorfall geklärt und laut dem tschechischen Außenminister die Schutzausrüstung anschließend aus eigenen Reserven Tschechiens nach Italien geschickt, doch er weist auf die höchst angespannte Stimmung hin. Die Europäische Kommission drohte außerdem Deutschland mit einer Untersuchung, sollte das Land seine Exportbeschränkungen auf Schutzmasken ins EU-Ausland nicht aufheben. Die Schweiz beklagt sich ebenfalls über fehlende Solidarität der Nachbarstaaten, auch hier kamen medizinische Güter nicht an, ehe die Kommission ein Machtwort sprach.

Nicht nur bei medizinischen Gütern scheint die Europäische Union in die Zeit vor Schengen zurückgefallen zu sein. Auch bei der Bewegungsfreiheit von Europäer*innen zählt plötzlich der Staat auf den Reisepässen mehr als die Lebenswirklichkeit ihrer Besitzer*innen. Die Unionsbürgerschaft ist nach wie vor ein großes Privileg, doch die Rückbesinnung auf den nationalen Charakter der Staaten verleiht der europäischen Bewegungsfreiheit, die der freien Migration für Unionsbürger*innen in der EU zugrunde liegt, eine neue, eingeschränkte, Dimension. Alle seien gleich, aber manche sind letztlich doch gleicher als andere...George Orwell lässt grüßen.

Grenzen dicht, jede*r für sich!

Es ist Mitte April und Corona hat in Europa Fuß gefasst. War man anfänglich interessiert, wie in Italien die Situation außer Kontrolle geriet, hat man sich nun schon fast an den Alltag mit Mundschutz und Warteschlangen vor den Geschäften gewöhnt. Die Nationalstaaten um Italien herum haben schnell passende Lösungen gefunden. Für sich. National. Staaten schlossen Grenzen, riefen Notstände aus, allein in Deutschland gibt es von einer Kommune zur nächsten völlig neue Verordnungen und Spielregeln. Da überrascht es kaum, dass die Nationalstaaten sich sehr sparsam absprechen.

Die Verbindungen zwischen zahlreichen europäischen Staaten wurden innerhalb kürzester Zeit gekappt. Flughäfen und Bahnhöfe wurden zu Parkplätzen und Ankündigungstafeln wurden mit “cancelled” geschmückt. Was sich Europa über Jahrzehnte erarbeitet hat, wurde in einem Monat zunichte gemacht. Aus Gründen der Gesundheit wurde dies zwar als notwendig erachtet, doch die konkrete Umsetzung erscheint fast schon absurd. Eine Folge dieser Abschottungspolitik? Hinter den Grenzen befinden sich Mitbürger*innen, die über Nacht zu Gestrandeten werden, andere bleiben in Ländern stecken, wo sie gerade arbeiten, studieren oder ihren Urlaub verbringen.

Es gab und gibt große Rückholaktionen, damit der Nationalstaat seine Schutzpflicht gegenüber seinen Bürger*innen erfüllen kann. So kam auch einer der Autoren dieses Artikels aus Montenegro nach Hause – dank der großen Hilfsbereitschaft der Mitarbeiter*innen mehrere europäischen Botschaften, seiner Freund*innen und derer Kontakte, denen er sehr dankbar ist. Happy End? Ja, aber…

Mitfliegen? Nur wenn noch Platz ist

In den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist folgende Situation keine Ausnahme mehr: Zwei unverheiratete Menschen leben und wohnen zusammen in einem europäischen Land. Eine*r ist da geboren, die*der andere besitzt eine andere Staatsangehörigkeit, ist aber seit Jahren im Land gemeldet und glaubt, einen zweiten Heimatort gefunden zu haben. Insbesondere in den Grenzregionen zwischen EU-Mitgliedsstaaten ist sowas häufig sogar die Regel.

Stellen wir uns vor, diese Personen seien zusammen im Nicht-EU-Ausland. Plötzlich beschließt das Land innerhalb von wenigen Tagen einen Lockdown, sodass selbst die schnellste Flugumbuchung nichts bringen würde. Sie melden sich bei ihren jeweiligen Botschaften und haben den wohl natürlichsten Wunsch - gemeinsam dahin auszureisen, wo sie gemeinsam wohnen. Doch was einen Monat vorher kein Problem gewesen wäre, ist nun fast schon eine Sache der Unmöglichkeit.

Wegen den gekappten Verbindungen bleiben nur die Rückholaktionen - eine Notlösung, aber immerhin eine Lösung. Bei diesen werden sie dann aber mit einem neuen Problem konfrontiert: Als erstes kommen Staatsbürger*innen an Bord. Wenn noch Platz bleibt, dürfen andere EU-Bürger*innen an Bord. Erst zuletzt kommen Angehörige von Drittstaaten. Egal ob alle drei Gruppen im selben Land leben, wird manch Gruppe bevorzugt behandelt.

Das klingt erstmal logisch. Die EU-Staaten helfen sich, solange Kapazitäten verfügbar sind. Doch im Klartext gibt es eben doch drei Klassen von Bürger*innen. Das einzige was zählt, sind die staatlichen Hoheitssymbole auf dem Pass. Da kann es schon passieren, dass selbst die überzeugtesten Europäer*innen plötzlich anfangen, die Menschen in der Warteschlange am Flughafen nach ihren Nationalitäten zu kategorisieren. Man steht abseits und zählt, wie viele Bürger*innen der “1. Klasse” schon durchgelassen wurden. Plötzlich hört man hinter sich britisches Englisch und sieht auch den britischen Pass. Puh, Glück gehabt: diese Person kommt dank Brexit erst nach einem selbst.

Bewusstsein schaffen!

Dies soll keine reine Polemik sein. Die beiden Autoren sind sich bewusst, welches Privileg sie mit ihren EU-Pässen (auch mehreren) in ihren Taschen haben. Corona bewirkt jedoch, dass was über Jahrzehnte erbaut wurde, peu à peu abgebaut wird. Teilweise aus schwer verständlichen Gründen. Statt einer geschlossenen Reaktion, wirken die Maßnahmen der Mitgliedsstaaten eher wie ein Rückschritt zum nationalen Klein-Klein. Europa als Festung und der Nationalstaat als Wall.

Doch nicht nur den Nationalstaat trifft hier eine Schuld. Als in Italien die Lombardei abgeriegelt wurde, war es auch in Brüssel erstaunlich still. Man hätte das Chaos verhindern können, wenn eine konzertierte Rückholaktion durch die EU für Unionsbürger*innen, die in allen Gebieten der Welt festsaßen, stattgefunden hätte. Und wenn man schon dabei wäre, hätte man dies auf alle in Europa lebenden Personen ausdehnen können. Es ist erschreckend, dass in solchen Ausnahmesituationen Politiker*innen fast reflexartig einen nationalistischen Automatismus durchführen. Und das alles, obwohl man geglaubt hat, diese nationalen Alleingänge bereits erfolgreich überwunden zu haben. Umso mehr, da es hier keine Notwendigkeit gab, die Menschen nach ihren Nationalitäten zu sortieren. Was bleibt ist auch ein fader Beigeschmack - während beispielsweise Deutschland Flüge chartern konnte, mussten in vielen Fällen andere EU-Länder auf Reisebusse oder private Flugzeuge vertrauen.

In sozialen Medien liest man tagtäglich Nachrichten, in denen Menschen verzweifelt nach Ratschlägen fragen, wie sie zu ihren Nächsten in europäische Nachbarländer einreisen können. Sollen wir als Europäer*innen wirklich wieder dazu gezwungen werden, uns nach Nationalität und Herkunft in verschiedene Klassen einzusortieren und um knappe Güter - ob Schutzmasken oder Sitzplätze im Flugzeug - zu konkurrieren?

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