Russland, die EU und das Rätsel der entfremdeten Nachbarn

, von  Dmitriy Frolovskiy, übersetzt von Maria Mitrov

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Russland, die EU und das Rätsel der entfremdeten Nachbarn
Der russische Präsident Wladimir Putin im Gespräch mit dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel während der Libyen-Konferenz in Berlin am 19.01.2020 Foto: https://newsroom.consilium.europa.eu/events/20200119-president-michel-at-the-berlin-conference-on-libya/president-michel-at-the-berlin-conference-on-libya-president-michel-at-9816/98365

In den letzten Jahren haben sich die Beziehungen zwischen Moskau und der EU stetig verschlechtert, bis zu einem Punkt, an dem es nichts mehr gibt, was überraschen könnte.

Die „harten Evidenzen“ des letzten Monats für die russische Verantwortlichkeit für Hackerangriffe auf Bundeskanzlerin Merkel hatten das Potential dazu, eine große diplomatische Pattsituation herbei zu führen. Doch bislang bleibt es weiterhin unklar, ob Berlin gewillt ist, Druck auf den Kreml auszuüben. Der Auftragsmord an einem früheren Kommandanten der tschetschenischen Separatisten im Dezember 2019, mitten in Berlin, wird dem russischen Geheimdienst zugeschrieben. Der Fall hätte ähnlich angespannte Folgen haben können wie der Giftanschlag auf Sergej Skripal in London im März 2018 – doch letzten Endes blieb das große entrüstete Echo aus.

Es könnte der Anschein erweckt werden, dass zu viele europäische Staaten den Versuch aufgegeben haben, Russlands Verhalten mithilfe neuer Sanktionsmaßnahmen umzuformen. Obamas Beschreibung der russischen geopolitischen Rolle als Regionalmacht und Störenfried, den es zu isolieren gilt, mag zutreffen. Allerdings hat sich herausgestellt, dass Sanktionen nicht in der Lage waren, Russlands Verhalten im In- und Ausland zu ändern.

Im März diesen Jahres sagte Präsident Putin der staatlich getragenen TASS Nachrichtenagentur, Russland habe einigen Schätzungen zufolge aufgrund der ausländischen Sanktionen bislang etwa 50 Milliarden US-Dollar verloren. Bloomberg News rechnet sogar mit einer Summe, die beim Vierfachen liegt. Doch selbst diese Sanktionshöhe scheint nicht auszureichen, um nachhaltige Veränderungen voranzutreiben.

Im Februar 2019 zeigte sich die russische Wirtschaftswelt bestürzt über die Festnahme von Michael Calvey, Gründer der privaten Investmentgesellschaft Baring Vostik. Die Verhaftung des Topinvestors – angeblich aufgrund eines Handelskonflikts mit dem Kreml-nahen Geschäftsmann Artem Avetisyan – löste internationale Kritik aus. Der US-amerikanische Russlandbotschafter Jon Huntsman verkündete einen Boykott eines weiteren bedeutenden Investorenforums in St. Petersburg. Wenige Monate später führten Putin und der französische Präsident Macron Gespräche, woraufhin Phillipe Delpal, führender Mitarbeiter bei Baring Vostik, unter Hausarrest gestellt wurde.

Während diese Entscheidung der russischen Wirtschaft nur noch einen weiter Schlag zu versetzen scheint, ist Calvey bloß einer von zehntausenden Geschäftsmännern und -frauen, die seit der Krimannexion verhaftet worden sind. So gab es 2018 beispielsweise mehr als 7700 Verhaftungen von Unternehmer*innen – 20 Prozent mehr im Vergleich zum Vorjahr und beinahe doppelt so viel wie 2014. Wenn sich überhaupt etwas in der russischen Regierung verändert hat, dann sind es die verschärften inneren Repressionen der letzten sechs Jahre.

Die Quarantänemaßnahmen im Rahmen von COVID-19 haben die russische Wirtschaft massiv beeinträchtigt – es könnte mindestens zwei bis drei Jahre dauern, um die ökonomischen Verhältnisse der Zeit vor Corona wiederzuerlangen. Das Ausmaß des wirtschaftlichen Schadens hat selbst die höchsten politischen Reihen alarmiert. Während des G20-Videogipfels im März schlug Putin überraschenderweise eine temporäre Aussetzung der Sanktionen auf essenzielle Güter vor. Wenige Tage später unternahm Russland erfolglos einen ähnlichen Versuch vor der UN. Nichtsdestotrotz scheinen wirtschaftliche Hindernisse nicht auszureichen, um die russische Auslandspolitik auf einen anderen Kurs zu bringen – auch wenn Ölpreise in den Minusbereich fallen.

Trotz des wirtschaftlichen Abstiegs im eigenen Land und dem geplatzten OPEC-Deal, ist das jüngste Unterfangen in Libyen in den letzten Monaten eindeutig von Russland geplant worden. In der Tat könnte das darauf hinweisen, wie mächtig der Einfluss Russlands auf Migrantenströme und somit auch auf die südeuropäische Politik ist. Ebenfalls wird deutlich, dass es nur sehr wenige Faktoren gibt, die Russland dazu bewegen könnten, eine konstruktivere Rolle in der Welt einzunehmen.

Die geographische Nähe und die erhebliche globale Handelsbeteiligung machen Russland zu einem schwierigen Nachbarn für die EU. In den letzten Jahren ist die Beziehung zwischen Moskau und der Union abgekühlt; eine gegenseitige Entfremdung hat eingesetzt. Darüber hinaus scheint Brüssel unsicher zu sein, wie man Moskau begegnen soll, und steckt selbst mitten in einer sich stetig verschärfenden Konfrontation zwischen Trumps USA (welches sowohl chaotisch als auch unberechenbar ist) und einem autoritären China, das immer selbstbewusster wird.

Wenngleich die EU die neuen Wellen von Sanktionen als Antwort auf die Hacking-Vorwürfe fortführen könnte, so ist es am Ende des Tages wahrscheinlich, dass sie versuchen wird, den Status Quo aufrecht zu erhalten. Brüssel ist nicht an einer eskalierenden Druckausübung interessiert und nährt keine Illusionen, dass der entfremdete Nachbar in absehbarer Zukunft ein verantwortungsvolleres Verhalten an den Tag legen wird.

Während einer Videokonferenz, geleitet von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, sprach Merkel mit führenden EU-Parlamentsabgeordneten. Das Thema Russland streifte sie nur kurz und sagte lediglich, die EU strebe weiterhin eine „friedliche Koexistenz“ mit dem Nachbar an. Ebenso fügte sie hinzu, Russland sollte auch eigenes Interesse an einer konstruktiven Beziehung mit der Union haben.

Dieses Statement spiegelt Europas durch und durch pragmatischen und desillusionierten Blick auf den aktuellen Stand der Dinge wider. Es gibt lediglich vorsichtige Hoffnungen, weitere Einbrüche in der Beziehung zu Russland so lange wie möglich zu vermeiden.

Die deutsche Ratspräsidentschaft hat am 1. Juli begonnen und wird die politische Agenda der EU für die nächsten sechs Monate maßgebend gestalten. Die Tatsache, dass die Bundesnetzagentur sich kürzlich geweigert hat, den Betreibern der Nord Stream 2-Pipeline ein Umgehen der EU-Gasrichtlinien zu gewähren, zeigt: Berlin ist bestrebt, eine einheitliche Position der EU gegenüber Russland zu festigen.

Mit anderen Worten: Merkel hat womöglich den Konsens der politischen Eliten dargestellt – jene, die jegliche Hoffnung auf ein verbessertes Verhältnis zu Russland verloren haben. In der nahen Zukunft wird Russland deswegen vielleicht nicht länger als außenpolitische Priorität oder potenzielle Gefahr behandelt – sondern als ein entfremdeter und problematischer Nachbar.

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