Als JEF-Mitglied kann ich es mir nicht verkneifen, vorneweg die „Wer hat’s erfunden“ Frage zu stellen. Jean-Claude Juncker und Ursula von der Leyen waren es jedenfalls nicht, auch wenn man in der vergangenen Woche den Eindruck bekommen konnte, dass dies anders wäre. Dennoch gebührt beiden Respekt dafür, dass beide eine uralte Kernforderung der JEF in den Fokus der Öffentlichkeit zurückgeholt haben. Dabei soll nur ganz kurz darauf verwiesen werden, dass es die Idee einer europäischen Armee schon im Jahr 1952 so konkret gegeben hat, dass sich all diejenigen, die diese Idee heute als „Fantasterei“ abtun, sich gehörig die Augen reiben. Es gibt sogar eine offizielle Beschlusslage des Deutschen Bundestages dazu – würden die Franzosen – zugegebenermaßen schwer vorstellbar - ihre damalige Nichtbehandlung des Gesetzes (anders als landläufig angenommen haben die Franzosen das Gesetz damals in der Nationalversammlung nämlich nicht abgelehnt, sondern schlicht von der Tagesordnung gestrichten) im Jahr 2015 aufgeben, hätten wir morgen eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft der Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft.
Obwohl das im Jahre 2015 relativ unpraktisch und in diesem Fall tatsächlich ein Szenario ohne Realitätsbezug wäre, zeigt dieses Beispiel dennoch, dass die grundsätzliche Idee eben nicht so völlig verrückt ist, wie das in diesen Tagen einige wenige Journalisten noch immer kommentieren. Nicht zu verhehlen ist, dass eine Neuauflage einer solchen Verteidigungsgemeinschaft mit mittlerweile 28 Mitgliedsstaaten ungleich schwieriger zu organisieren sein wird als mit sechs, die es 1952 zu überzeugen galt. Die Motivation, die die Adenauer-Regierung damals zur Zustimmung bewegte, lag darin begründet, dass man auf diese Weise Souveränität im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik zurückzugewinnen hoffte (zur Erinnerung, die Bundeswehr gibt es erst seit 1955), während ehemalige Großmächte wie Großbritannien und Frankreich sowie Staaten, die erst vergleichsweise kurz ihre staatliche Eigenständigkeit zurückerlangt haben wie Polen im Jahre 2015 große Sorge davor haben, durch eine solche militärische Einbindung an Souveränität zu verlieren.
In sechs Punkten will ich im Folgenden darlegen, warum wir aus meiner Sicht eine EU-Armee brauchen und ich will auch in groben Strichen bereits skizzieren, wie die Entwicklung dorthin konkret aussehen könnte.
Erstens: die einzelnen europäischen Staaten unterhalten aktuell 28 eigene Armeen mit zusammen über 1,5 Millionen Soldaten. Viele Waffensysteme sind nicht kompatibel, die einzelnen Armeen leisten sich Fähigkeiten, die sich gebündelt weitaus kostengünstiger und vor allem effektiver gestalten ließen. Eine EU-Armee spart also bares Geld und ist effizienter.
Zweitens: Ein Staat wird erst dann zu einem Staat, wenn er in der Lage und notfalls auch bereit ist, im Fall der Fälle seine Bürger auch zu schützen. Ohne hier auf die Diskussion einzugehen, ob es sich bei der EU um einen Staat handelt, ist die Europäische Union in dieser Hinsicht nach wie vor essentiell von der Sicherheitsgarantie der USA im Rahmen der NATO abhängig. Diese Abhängigkeit verhindert die politische Weiterentwicklung der EU zu einem eigenen föderalen Staat, da im Zweifel der Reflex aus den Nationalstaaten kommt, sich lieber auf die USA als auf sich selbst zu verlassen. Eine Europäische Armee ist das Symbol für das Streben nach staatlicher Einigkeit und Unabhängigkeit.
Drittens: Die vollständige Integration aller europäischen nationalen Armeen in eine Europäische Armee wäre der zweite Schritt vor dem Ersten. Eine vollständige Abschaffung nationaler Armeen ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Der gemeinsame Einsatz einer Armee außerhalb der eigenen (EU-) Grenzen erfordert zunächst die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik mit nur einem Außenministerium, einem Außenminister und einer offiziellen diplomatischen Vertretung aller Gliedstaaten der EU in jedem anderen Land der Welt. Selbst auf eine einheitliche außenpolitische Linie nichtmilitärischer Art können sich jedoch die Mitgliedsstaaten in der Regel nicht einigen. Gerade am Libyen-Einsatz der NATO oder am Mali-Einsatz Frankreichs oder auch an der „Koalition der Willigen“ nach dem 11. September kann man sehen, wie wenig die nationalen Regierungen aktuell noch immer bereit sind, auf nationale Alleingänge zu verzichten. Rücksicht auf die (vermeintliche oder reale) Stimmungslage in der nationalstaatlichen Bevölkerung hat Vorfahrt vor der Suche nach einem gesamteuropäischen Interesse. Wie diesem Problem wirksam begegnet werden kann, wird in Punkt fünf noch weiter erläutert.
Viertens: das Thema Europäische Armee gewinnt ganz aktuell durch den Krieg in der Ostukraine an Brisanz. Wladimir Putin hat mittlerweile offen eingeräumt, in auf die Krim einmarschiert zu sein und Waffen und Soldaten in die Ostukraine zu liefern. Russland führt mehr oder weniger offen Krieg gegen einen Staat an der direkten Peripherie der Europäischen Union. Darüber hinaus hat er deutlich gemacht, dass er für sich in Anspruch nimmt, russischstämmige Bevölkerungsteile auch im Ausland im Zweifel mit militärischer Gewalt vor westlichem Einfluss „zu bewahren“. Sein Handeln stellt eine unmittelbare Bedrohung für die osteuropäischen Staaten dar. Insbesondere Polen und die baltischen Staaten müssen die Gefahr einer russischen Intervention auf ihrem Staatsgebiet fürchten. Es ist daher vitales europäisches Interesse, die Unabhängigkeit der osteuropäischen Mitgliedsstaaten selbstständig zu garantieren.
Fünftens: resultierend daraus ergibt sich die logische Schlussfolgerung, dass wir keine „EU-Armee über Nacht“ einrichten sollten, bei der die nationalen Armeen abgeschafft würden, sondern wir brauchen eine europäische Armee der kleinen Schritte. Im Rahmen eines zu schaffenden europäischen Verteidigungsvertrags, ergänzend zur NATO, würden die bereits bestehenden Strukturen wie Battlegroups und Eurokorps zu einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft ausgebaut, die die Außengrenzen der EU schützen würden. In dieser Perspektive wäre eine solche Armee defensiv gegen die neue Bedrohung aus Russland gerichtet. Ein freiwilliger Wehrdienst könnte diesen Prozess unterstützen. Statt amerikanischer Soldaten würden sodann EU-Soldaten die Souveränität der Europäischen Union sichern. Interessant würde die Debatte über die rechtliche Bewertung. Aktuell bezieht sich die Feststellung des „Verteidigungsfalls“ in Deutschland etwa ausschließlich auf die Verteidigung deutschen Territoriums. Wenn man diesen Begriff auf die EU erweitern würde, wäre das Grundgesetz umfassend zu ändern. Umgehen könnte man diesen Fall, indem man in einem Vertrag über die europäische Verteidigungsgemeinschaft festlegen würde, dass der Bündnisfall weiterhin auch durch den Bundestag festgestellt werden müsste. Bündnisverpflichtungen sind durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil über Auslandseinsätze der Bundeswehr von 1994 gedeckt.
Sechstens: langfristig geht an einer vollständig integrierten europäischen Außenpolitik und einer damit einhergehenden Europäischen Armee kein Weg vorbei. Dazu gehört eine Zusammenfassung des britischen und französischen Sitzes im UN-Sicherheitsrat zu einem Europäischen Sitz, einer Übergabe des Rechts auf Feststellung eine Europäischen Verteidigungsfalls auf das Europäische Parlament und die Diskussion darüber, wie über den Einsatz von Militär zu humanitären oder friedenschaffenden Maßnahmen zu entscheiden wäre. Auch wenn das in Deutschland niemand gerne hört und die JEF dazu eine gegenteilige Beschlusslage hat, glaube ich, dass sich das „Deutsche Modell“ mit einer Entscheidungsfindung über solche Einsatz in der Legislative, sprich in dem Fall dann über das EU-Parlament, nicht durchsetzen wird. Die deutsche Erfahrungswelt einer „Parlaments-Armee“ spiegelt nicht die Erfahrungswelt der übrigen EU-Staaten wieder. Insofern wird voraussichtlich über eine Einsatzbefugnis für eine wie auch immer noch zu gestaltende und gewählte Europäische Exekutive diskutiert werden müssen, die allerdings ohne tatsächliche „Vereinigte Staaten von Europa“ nicht denkbar ist.
Marketingforscher wissen, dass Menschen etwas dreimal hören müssen, bevor sie sich für ein „Produkt“ wirklich interessieren. Eigentlich ist die Idee einer Europäischen Armee ein alter Hut, aber in den Ohren der meisten Menschen in der vergangenen Woche erstmals thematisiert und vor allem als Möglichkeit der Realpolitik präsentiert worden. Die JEF sollte dies zum Anlass nehmen, um die Debatte über eine Europäische Armee immer wieder auf die öffentliche Agenda zu setzen – wenn wir einen föderalen europäischen Bundesstaat erreichen wollen, geht an einer gemeinsamen Europäischen Verteidigung kein Weg vorbei.
1. Am 17. März 2015 um 11:35, von Manuel Müller Als Antwort Sechs Gründe für eine Europäische Armee
Wie unterscheidet sich die „europäische Armee der kleinen Schritte“ in Punkt 5 vom Status quo? EU-Battlegroups gibt es schon heute; Art. 42 Abs. 7 EUV verpflichtet die Mitgliedstaaten schon heute, „im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats [...] alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ zu leisten; eine Armee mit „freiwilligem Wehrdienst“ ist nichts anderes als eine Berufsarmee, wie sie in vielen Mitgliedstaaten üblich ist (in den anderen gibt es einen unfreiwilligen Wehrdienst).
Die entscheidende Frage ist am Ende doch nur, wer nach welchem Verfahren über den Einsatz militärischer Mittel entscheidet. Solange ein Einsatz der gemeinsamen europäischen Truppen wie heute nur möglich ist, wenn alle nationalen Regierungen (und, nach den innerstaatlichen Verfassungsvorschriften, oft auch noch die nationalen Parlamente) zustimmen, wird die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik ein Papiertiger bleiben. Sobald hingegen die Entscheidung über den Einsatz von militärischen Mitteln (bzw. die Feststellung des EU-Bündnisfalls) nach dem Mehrheitsprinzip fällt (ob durch Rat, Europaparlament oder Kommission), werden wir de facto eine europäische Armee haben und benötigen dafür nach dem Lissabon-Urteil nicht nur ein „umfassend geändertes“, sondern ein völlig neues Grundgesetz.
Man kann das anstreben, zum Beispiel wenn man Angst hat, dass sich die einzelnen nationalen Regierungen im Fall der Fälle doch vor ihren Verpflichtungen aus Art. 42 Abs. 7 EUV drücken würden. Aber es ist jedenfalls ein sehr weiter Weg. Und ich weiß nicht, ob in der Zwischenzeit die europäische Armee wirklich das am besten geeignete Thema ist, um die Notwendigkeit eines überstaatlichen Föderalismus zu begründen.
2. Am 26. März 2015 um 23:02, von Ludger Wortmann Als Antwort Sechs Gründe für eine Europäische Armee
Lieber Manuel, zwar existieren EU-Battlegroups, aber diese haben nur Bataillonsstärke und können lediglich 30 Tage lang operieren. Mit anderen Worten bringen sie gar nichts. Die europäischen Armeen unter ein gemeinsames Kommando zu stellen und sie danach organisatorisch zu integrieren ist etwas ganz Anderes. In der Tat gibt es in der EU eine Bündnisverpflichtung, aber diese beeinhaltet kein gemeinsames Kommando. Im Ernstfall würde also entweder nach dem Prinzip Hühnerhaufen verfahren und gar nichts passieren. Ich halte es für recht unwahrscheinlich, dass die EU oder NATO sich für Estland und Lettland, also jene beiden Staaten mit erheblicher russischer Minderheit, die viele russische Nationalisten als ihr Gebiet ansehen, einen großen Krieg mit Russland riskieren werden. Genau das müssten sie aber tun, um Russland abzuschrecken und dadurch zu verhindern, dass es zu einem solchen Angriff überhaupt kommt. Wären die europäischen Armeen integriert und überall in der EU stationiert, könnte man nicht anders als mit einem Angriff auf einen Mitgliedsstaat die gesamte EU anzugreifen und ließe es deshalb lieber bleiben. Natürlich wären die Verfassungsänderungen, die dafür notwendig wären, sehr weitgehend. Aber das schreckt mich als Föderalisten nicht unbedingt ab, immerhin hätte ich ja auch gerne eine europäische Verfassung. Was uns die Armee nutzen würde, hat David im Artikel ja erklärt. Besten Dank übrigens für den Link zu deinem eigenen Artikel! Viele Grüße Ludger
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