Eigentlich kennt man Ferdinand von Schirach als begnadeten Schriftsteller und ehemaligen Strafverteidiger. Seine Bücher und Theaterstücke feiern internationale Erfolge, sind preisgekrönt und werden regelmäßig verfilmt. Sein Schreibstil ist dabei stets klar, schlicht und scharfsinnig. Der Kanon seiner Werke steht bereits jetzt für die Wahrung der Würde des Menschen. Neuerdings ist von Schirach aber auch Aktivist – auch wenn er sich vermutlich selber so nie bezeichnen würde. Denn in Kooperation mit anderen Jurist*innen, verfasste der Wahlberliner eine neue EU-Grundrechtscharter und versucht so eine Bürgerrechtsbewegung an zu stoßen.
Nun erscheint ein Heft, das sechs neue EU Grundrechte fordert. Gesetze, die utopisch klingen. Gesetze, die eine Welt zeichnen, die selbstverständlich sein sollte. Und so schreibt von Schirach sein wohl mächtigstes Werk bisher, denn er berührt nun eine andere Wirklichkeit, als mit seiner Literatur, sagt er.
Die neuen Grundrechte, die vorgeschlagen werden, lauten wie folgt:
Artikel 1 – Umwelt
Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.
Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung
Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.
Artikel 3 – Künstliche Intelligenz
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.
Artikel 4 – Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.
Artikel 5 – Globalisierung
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.
Artikel 6 – Grundrechtsklage
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.
Die Schönheit dieser Gesetzte liegt in ihrer Verständlichkeit, es ist kein Juristendeutsch. Und während man die Zeilen liest, ertappt man sich bei dem Gedanken: Wieso ist das nicht längst Normalität? Und gibt es solche Gesetzt nicht bereits? Zwar gibt es solche Texte, die Grund- und Menschenrechte formulieren, aber nicht alle sind einklagbar. Die aktuelle EU-Grundrechtecharter wird durchaus angewandt, ist aber nur indirekt in der Rechtsprechung von Gerichtsprozessen beteiligt. Man zieht sie als eine Art Leitlinie heran. Sie selbst, können aber nicht als Grundlage in einem Prozess dienen. Doch genau daraus resultiert die Stärke solcher Gesetze. So ist das deutsche Grundrecht deshalb hoch angesehen, weil es vor den Gerichten verteidigt wird. Ringt man um die Auslegung der Gesetze, werden sie lebendig und bekommen ihre Macht, entfalten ihre Wirkung. Dass beschreibt von Schirach in mehreren Interviews dieser Tage. Und so wirkt der letzte Gesetzesvorschlag von Schirachs, wie der Wichtigste.
Utopien
Wie bei jeder Bewegung gibt es Kritiker*innen. Und so hört man bereits jetzt, besonders aus den Reihen der Jurist*innen, Kritik. Die Vorschläge seien utopisch und nicht umsetzbar. Sie könnten einen Systemkollaps provozieren und die Gerichte könnten einer drohenden Anklageflut nicht standhalten. Es würde Europa aus dem wirtschaftlichen Rennen nehmen. Denn welches Unternehmen würde noch seine Produkte in Europa verkaufen wollen, wenn Gefahr drohe, dass jeder Mensch sie für menschenunwürdige und naturzerstörende Herstellung anklagen könnte – ungeachtet, ob das Produkt in Europa produziert wurde oder nicht – ungeachtet, ob die Kläger*in ein*e EU-Bürger*in ist oder nicht?
Dies ist nur ein Teil der Wahrheit, denn die wenigsten Globalplayer können gänzlich auf den europäischen Markt verzichten. Es wäre hingegen ein unmissverständliches Signal, für was europäische Werte stehen. Von Schirach erklärt Journalist*innen, wenn sie ihn mit diesen Kritiken konfrontieren, sehr sachlich, wo seiner Einschätzung nach der Gedankenfehler dieser Kritiken liege. Denn welche große Verfassung sei nicht utopisch gewesen. In einem Podcast erklärt er es kürzlich wie folgt. Als die US-Gründungsväter die Unabhängigkeitserklärung formulierten, schrieben sie hinein, dass jeder Mensch frei sei. Gleichzeitig besaß George Washington, Verfasser dieser Schrift und erster US-Präsident, 500 Sklav*innen. Als im Nachkriegsdeutschland die Grundgesetzväter diesen einen wahrhaftigen Satz schrieben, „die Würde des Menschen ist unantastbar“, hätte dieser Satz nicht ferner klingen können, kam man doch gerade aus der dunkelsten Epoche unseres Kontinents. Das gleiche galt für die französische Verfassung. Es waren Schriften, die eine bessere, verheißungsvollere Welt beschrieben. Sie formulierten eine Utopie. Ob Erreichbar oder nicht, schien dabei wohl unerheblich. Wichtiger war es, dass sie im Kern die angestrebten Werte einer Gesellschaft festsetzten. Das Streben danach, war es wert sie auf zu schreiben und für gültig zu erklären. Zu weiten Teilen erfüllten sie tatsächlich einen Gesellschaftswandel. Die neuen Verfassungen setzten dabei um, was längst bei den Menschen begonnen hatte. Sie entstanden nicht im luftleeren Raum, sondern vollzogen, was viele Menschen bereits für ihr Zusammenleben als wichtig erachteten.
Die Erweiterung um diese sechs Artikel scheint, für die aktuellen Herausforderungen unserer Zeit, ein adäquates Handwerkszeug zu sein. Sie bündelt alle Bewegungen, Petitionen, Aktionen, und Forderungen unserer Zeit. „Gießt sie in ein Gefäß“, wie es von Schirach bezeichnet. Er müsse dabei nicht mit „falscher Bescheidenheit kokettieren“, denn all diese Forderungen lagen bereits in der Luft. Zurück bleibt aber die Frage: Geben die vorgeschlagenen sechs Grundrechte Europa mehr Kontrolle darüber, eine faire Welt zu schaffen, oder werden sie uns lahmlegen?
Umsetzung
Von Schirach betonte eben in jenem Podcast, dass es keine Petition sei. Denn Petitionen setzten eine Anzahl an zu erbringenden Befürworter*innen fest. Um dann eine Bitte an die Politik zu stellen. Für die Initiative, „Jeder Mensch“, die diese neuen Grundgesetze verabschieden möchte, bedarf es eines Grundrechtskonvent. Eine Zusammenkunft der europäischen Staaten, um sich, auf Drängen der Bürger*innen hin, neue Grundrechte zu geben. „Jeder Mensch“ ist also keine Bitte, sondern, sollte es genügend Menschen unterstützen, eine Anweisung an die Regierenden diese Gesetze zu verabschieden. Die Politik sei dabei nicht der Gegenspieler, so von Schirach. In einer freien Europäischen Union, geben sich Menschen die Gesetze selber, es sei „antiautoritär“. Und habe nichts damit zu tun, dass uns etwas geschenkt oder zugestanden werden sollte. „The bare minimum“, wenn man so will. Wie es dem Wort selbst, Grundrecht, zu entnehmen ist – die Grundlage für eine Gesellschaft.
Relevanz und Dringlichkeit
Kürzlich gab es einen Fall vor dem Europäischen Gerichtshof, EuGH, beschreibt von Schirach in einem Artikel der Zeit. Ein Fall, in dem mehrere Familien klagten, weil der Klimawandel ihnen die Lebensgrundlage wegnehme. Die Familien auf Langeoog beschrieben, dass die steigenden Meeresspiegel die Küsten bedrohe, und buchstäblich den Boden, auf dem Menschen leben, verschwinden lasse. Das Gericht wies die Klage ab.
Ähnliche Fälle gab es bei Bäuer*innen, die beklagten, dass die Ernten weniger ertragreich seien und es immer schwieriger werde anzubauen. Das kann nicht rechtens sein, der Staat habe eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zum Schutz von Leben und Gesundheit, und dem komme er nicht ausreichend nach, so die Anklage der Bäuer*innen. Ihre Lebensgrundlage sein bedroht. Es wurden Gutachten erstellt, und untersucht, in wie weit die Lage zutreffe. Die Gerichte verwiesen auf den Bund und die Länder. Diese gaben dann bekannt, dass alle Anschuldigungen des Bauers korrekt seien. Der Klimawandel ist real, und hat bereits jetzt Konsequenzen. Es ist kein fernes Problem mehr, dass die Menschen erst noch ereilen wird. Es ist kein Ereignis, dass aus dem Hier und Jetzt entrückt werden könnte. Schnelles Handeln kann folglich nicht als unverhältnismäßig abgetan werden.
Dabei mussten Verfassungsrechtler*innen mit Bedauern feststellen, dass es keine rechtliche, juristische Grundlage gibt, den Inselbewohner*innen oder den Bäuer*innen etwas zu zusprechen. Alle Entwürfe der Politik dazu, wie das Pariser Klimaabkommen, sind nicht einklagbar. Absurd, wenn man sich die bestätigte Dringlichkeit des Problems vor Augen führt. Dennoch, die richtigen Schritte werden langsam genommen, und so konnten die Klimaaktivist*innen von „Fridays for Future“ kürzlich einen Sieg vor Gericht erringen. Das Karlsruher Verfassungsgericht erklärte dabei, dass die Klimapolitik der Bundesregierung verfassungswidrig sei. Sie zwingen damit den Gesetzgeber, bis kommenden Jahres Maßnahmen für die Einhaltung der Klimaziele zu beschreiben und fordern so mehr Handlungsorientierung.
Doch die neuen Grundrechte gehen noch weiter und sollen EU-weite Abhilfe schaffen. Ihre Notwendigkeit, erhalten die neuen Gesetze auch dadurch, dass sie für die heutige Gesellschaft gedacht sind. Verfassungen, obwohl sie im Vergleich auch jung sein können, sind dennoch aus einer anderen Zeit. Die deutsche Verfassung stammt aus einer Zeit, in der der Klimawandel nicht akut war, es kein Internet gab und eine globalisierte Welt mit heutigem Ausmaß sich erst anbahnte.
Auslegung
Im Erarbeitungsprozess dieser sechs Artikel, hat von Schirach mit Jurist*innen, Journalist*innen, Schriftsteller*innen und Expert*innen verschiedenster Couleur zusammen gearbeitet, aus den unterschiedlichsten europäischen Staaten. Dabei wurde viel über Begrifflichkeiten geredet. Keins der Worte wirkt unüberlegt. Sie kreieren ein klares Bild von der Absicht der Gesetze. Dennoch bleiben Interpretationsspielräume übrig, wie bei den Begriffen „Wahrheit“ und „gesund“. Der Wunsch eine Utopie zu schaffen mit dieser Schrift, wird hieran wohl am greifbarsten. Denn der bewusst gewählte Interpretationsspielraum, lässt einen Blick in die Zukunft erhaschen. Gerichte werden sich nämlich genau dieser Aufgabe stellen müssen. Was ist gesund, und wo fängt Wahrheit an? Bei der Abgrenzung zum Kranken und den Lügen?
Aber genau das scheint von Schirach zu wollen. Eine lebhafte Diskussion vor den Gerichten. Denn vor Gericht, würde es sichtbar werden. Der Rechtsstaat hat dann zu handeln, und kann sich nicht vor den Problemen verschließen, unter den Anweisungen der Gerichte. Momentan lässt sich zumindest nur schwer nachvollziehen, wie digitale Daten verwendet werden, oder welches Produkt nun tatsächlich umweltfreundlich und nach europäischen Standards menschenwürdig hergestellt wurde. Und so ist die Erweiterung der aktuellen EU-Grundrechte, eine Erweiterung der Rechtsstaatlichkeit, der Fairness, der Gleichberechtigung.
Vom Feuilleton in die Politik
Von Schirach zeichnet eine europäische Gemeinschaft, die lebendiger sein könnte, als es aktuell den Anschein macht. Eine Gemeinschaft, die nicht nur einen Verwaltungsapparat darstellt, sondern tatsächlich Einfluss üben kann in der Welt. Sollten die Gesetze verabschiedet werden, könnte es zu einer Umstrukturierung, einem Umdenken unserer Gesellschaft kommen. Aber aus bloßer Angst, die großen Probleme vernünftig an zu gehen, dürfe man sie nicht halbherzig angehen– das scheint zumindest von Schirach zum Ausdruck bringen zu möchten.
Kommentare verfolgen: |