[Anm. d. Red.: Der Artikel wurde das erste Mal im Jahr 2017 als Nachruf veröffentlicht.]
Wir trauern nicht nur um eine Stimme und ein Gesicht, wir trauern auch um einen Mythos. Dieser Verlust trifft uns in unserem tiefsten Inneren, denn Simone Veil war unser Gedächtnis und Gewissen. Den lebensnotwendigen Anspruch an das Erinnern, die Freiheit, die Gleichheit und des europäischen Geistes gab sie an uns weiter. Aber sie wird immer präsent bleiben, denn sie wird ein Symbol und ein Teil unserer gemeinsamen Vorstellungswelt bleiben.
Die Häftlingsnummer 78651
Am 13. April 1944 wird die junge Simone Jacob zusammen mit ihrer Mutter und Schwester in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Zwei Tage später wird ihr die Häftlingsnummer 78651 in die Haut eintätowiert.
Als Überlebende der Shoah setzt sich Simone Veil ihr gesamtes Leben für die Erinnerung an den Völkermord ein. Niemals verbarg sie die Nummer, die ihr die Nazis einschrieben. Sie entscheidet sich, sich mit der Erinnerung auseinanderzusetzen und gegen den Antisemitismus zu kämpfen. Zwischen 2000 und 2007 ist sie Vorsitzende der Stiftung zur Erinnerung an die Shoah. Im Jahr 2010 lässt Simone Veil in den Knauf ihres Schwertes als Angehörige der Académie Française diese Häftlingsnummer eingravieren, ebenso wie die Flammen der Krematoriumsöfen. (Die Mitglieder der Académie Française, die auch mit dem Beinamen die Unsterblichen - „les immortels“ - benannt werden, tragen als Symbol ein Schwert. Anmerkung A. Molt).
Sie erhält sich aus dieser Zeit eine starke Abneigung gegen Totalitarismus und Vereinnahmung. Gleichzeitig bewahrt sie sich eine unbändige Lebenslust. Als sie nach Paris zurückkehrt wird sie Richterin und widmet sich vor allem der Situation weiblicher Häftlinge. Hier findet sie Nahrung für ihre tiefe Menschlichkeit und Empathie. 1969 beginnt sie eine politische Laufbahn indem sie sich dem Kabinett des Justizministers René Pleven anschließt. Das Jahr 1974 wird zum Wendepunkt: sie nimmt die Einladung Jacques Chiracs an, Gesundheitsministerin zu werden. Ihr Mitgefühl und ihre Menschlichkeit während dieser Amtszeit berühren die Franzosen noch immer.
Der Kampf für das Abtreibungsrecht IVG
Im Jahr 1975 verteidigt Simone Veil das Versprechen des Präsidenten Giscard d’Estaing, die Abtreibung zu entkriminalisieren. Dieser Kampf prägte ihr Leben aber auch ganz Frankreich. Im Angesicht einer ihr feindlich gesonnenen Parlamentsmehrheit verfolgt sie dieses Projekt mit Würde und Streitlust. Sie ist dabei den schlimmsten frauenfeindlichen und antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, aber sie erntet auch Bewunderung.
Der Gesetzestext folgt auf das sogenannte Gesetz Neuwirth, das die „Pille danach“ legalisierte. Verabschiedet mit den Stimmen der Linken, handelt es sich um einen großen Fortschritt für die Rechte der Frau. Endlich sind die Frauen unabhängig: Ihnen steht ein legaler und ungefährlicher Weg zur Abtreibung offen, aber sie sind auch untereinander in dieser schwierigen Entscheidung gleichberechtigt, in welcher gesellschaftlichen Situation sie sich auch befinden mögen.
Als ein Symbol des gesellschaftlichen Fortschritts ist dieses Gesetz geprägt durch den pragmatischen Feminismus Simone Veils. Sie setzt sich ein für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, indem sie gleichzeitig die Unterschiede und die gegenseitige Ergänzung erwähnt und bei alldem die Überlegenheit der Männer zurückweist. Aber diese starke und symbolische Zeit sollte uns nicht vergessen lassen, was sie davon abgesehen, noch als Gesundheitsministerin geleistet hat. Während ihrer fünfjährigen Amtszeit verteidigt sie die Rechte von Menschen mit Behinderung, Gesetze zu Adoption, Elternzeit, der humane Ausstattung von Krankenhäusern und Organsspende, sowie Gesetze gegen übermäßigen Tabakkonsum, die Frankreich tief geprägt haben. Unabhängig und radikal in ihren Ideen macht Simone Veil keine Kompromisse, denn ihr „echter Kampf ist die Gleichheit von Armen und Reichen im Angesicht von Krankheit.“
Ein europäisches Schicksal
Das Schicksal Simone Veils ist für immer mit Europa verbunden. Im Leiden, als am Abgrund der Shoah ihre Mutter in ihren Armen stirbt, aber auch im Glück. Sie verkörpert vollkommen das europäische Ideal, das Ideal des Friedens.
Auf Bitte des Präsidenten Giscard d’Estaing führt sie bei den Europawahlen 1979 die Liste der UDF an. Sie wird anschließend die erste direkt gewählte Parlamentspräsidentin des Europäischen Parlaments. Geleitet von dem Willen, die Kraft Europas weiter zu stärken sticht sie durch ihre Urteilskraft und ihre föderalistischen Positionen hervor. Sie versucht, die Kompetenzen und die Bekanntheit des Europäischen Parlaments zu stärken.
Nach Ende ihrer Amtszeit als Präsidentin des Europäischen Parlaments 1982 ist sie weiterhin Abgeordnete, bis sie 1993 wieder ins Gesundheitsministerium zurückkehrt. Sie setzt sich während dieser Zeit für die Erweiterung Europas ein und für die Beziehungen mit den Nachbarländern. Ihr Appell von 1992 für eine Militärintervention der EU in Jugoslawien um einen neuen Völkermord zu verhindern hat das kollektive Gewissen berührt. Aus dieser Erfahrung ging sie mit gemischten Gefühlen - aufgrund des mangelnden Engagements der französischen Politiker.
Auch jenseits ihres politischen Lebens erhebt sie die Stimme für Europa. Im Jahr 2005 drückt sie sich trotz ihrer Position als Mitglied des französischen Verfassungsgerichts für ein stärkeres und demokratischeres Europa aus und fordert ein „Ja“ zum europäischen Verfassungsprojekt. Im Jahr 2010 lässt sie die Devise der Europäischen Union („In Vielfalt geeint“) auf ihr Schwert als Mitglied der Académie Française eingravieren. Unvergessen sind vor allem ihre Worte, die sie uns 2008 in Bezug auf Europa anvertraute: „Wenn ich zurückschaue auf die letzten 60 Jahre, ist es das beste, was wir je getan haben.“
Wir haben am 30. Juni 2017 eine Mutter verloren. Jene Mutter eines vereinigten Europas aber auch jene Persönlichkeit, die es verstand, uns Orientierung zu geben, wenn wir das Gefühl hatten, die Dinge hätten ihren Sinn verloren. Wie bereits Präsident Valéry Giscard d’Estaing sagte, als Simone Veil 1979 ihr Amt als Gesundheitsministerin verließ: „Ihr Lächeln wird uns fehlen.“
Am 30. Juni 2017 verstarb Simone Veil in Paris.
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