Beitrag zum EUD-Bürgerdialog “30 Jahre nach den friedlichen Revolutionen in Europa: Wie halten wir es heute mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit?” vom 03.12.2020

Streit um den Rechtsstaatlichkeits-mechanismus: Wie lassen sich Demokratie und Zivilgesellschaft in Europa stärken?

, von  Carolin Hilkes, Florian Bauer

Streit um den Rechtsstaatlichkeits-mechanismus: Wie lassen sich Demokratie und Zivilgesellschaft in Europa stärken?
Eine weitere Verschärfung der Abtreibungsgesetze führte zu Massenprotesten für die Rechte von Frauen in Polen. Die polnische Regierung stellt sich gemeinsam mit Ungarn gegen den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus. Foto: Unsplash / Jakub Chlebda / Unplash License

Polen und Ungarn wehren sich mit ihren Vetos gegen einen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus im EU-Budget. Wie können die Haushaltsblockade gelöst, Demokratien in ganz Europa gestärkt und Räume für zivilgesellschaftliches Engagement verteidigt werden? Im EUD-Bürgerdialog vom 03. Dezember wurden Lösungsansätze diskutiert.

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gelten als Fundament der Europäischen Union, stehen aber in Teilen Europas zunehmend unter Druck. Der Konflikt über einen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus für den EU-Haushalt, der Mittelkürzungen bei Verstößen vorsieht, eskalierte jüngst mit dem Veto der ungarischen und polnischen Regierung. Im Rahmen der Bürgerdialogreihe der überparteilichen Europa-Union Deutschland (EUD) diskutierten Marek Prawda, Vertreter der EU-Kommission in Polen und Selmin Çalışkan, Direktorin für institutionelle Beziehungen im Berliner Büro der Open Society Foundation unter dem Titel “30 Jahre nach den friedlichen Revolutionen in Europa: Wie halten wir es mit heute mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit?” mit den über 90 Teilnehmer*innen. Dabei wurden sowohl mögliche Lösungen für die Haushaltskrise als auch Ansätze zur Stärkung der zentralen demokratischen Rolle der europäischen Zivilgesellschaft - auch gegen den Widerstand nationaler Regierungen - diskutiert.

EU-Haushalt: Rechtsstaatlichkeitsverstöße sollen teuer werden

Das Europäische Parlament und die EU-Mitgliedsstaaten haben sich grundsätzlich auf einen Wiederaufbaufonds und den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 geeinigt. Der Wiederaufbaufonds soll 750 Millionen Euro beinhalten, die zur Bekämpfung der Folgen der Corona-Pandemie verwendet werden können. Der Mehrjährige Finanzrahmen legt für den Zeitrahmen 2021-2027 die Ausgabenobergrenze auf 1,074 Billionen Euro und die Bereiche fest, in die die EU investieren will. Gemäß diesen Vorgaben kann der jährliche EU-Haushaltsplan beschlossen werden. Der Wiederaufbaufonds und der Mehrjährige Finanzrahmen wurden dabei als ein Paket in Höhe von insgesamt 1,8 Billionen Euro ausgehandelt.

Dieses Paket beinhaltet auch einen neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus. Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass die Regierung und Verwaltung eines Landes nur im Rahmen der bestehenden Gesetze handeln dürfen. Dabei müssen die Grundrechte der Bürger*innen garantiert sein und staatliche Entscheidungen müssen von unabhängigen Gerichten überprüft werden können. Bei Verstößen gegen diese Grundsätze oder im Falle eines unsachgemäßen Umgangs mit EU-Geldern, würde der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus der EU erlauben, ihren Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen finanzielle Mittel zu kürzen.

Die Sprache des Geldes

Ob solche finanziellen Sanktionen gegen Rechtsstaatlichkeitsverstöße effektiv sind, ist umstritten. Mit den sanktionierten Regierungen leidet oft auch die Zivilgesellschaft unter den finanziellen Auswirkungen. Während des EUD-Bürgerdialogs gab eine Mehrheit der Teilnehmenden in einer Umfrage an, finanzielle Sanktionen gegen Rechtsstaatlichkeitsverstöße zu befürworten. Auch der Vertreter der EU-Kommission in Polen Marek Prawda hält finanzielle Sanktionen für unabdingbar, da meist nur die Sprache des Geldes von den Regierungen verstanden werde. Zudem müsse stets garantiert werden, dass die Finanzen der EU in guten Händen liegen. Ihm zufolge müsse die EU ein starkes Signal für die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien senden, wobei der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus klare Grenzen aufzeigen könnte. Zugleich wurde über Lösungen diskutiert, um dafür zu sorgen, dass auch bei der Sanktionierung von Regierungen weiterhin Geld an diesen vorbei an die Endabnehmer*innen von EU-Förderung fließen kann.


Umfrage unter den Teilnehmenden des EUD-Bürgerdialog am 03.12.2020. Bild: zur Verfügung gestellt von der Europa-Union Deutschland e.V.

Veto von Ungarn und Polen

Weil sie den Rechtsstaatsmechanismus seiner vorgeschlagenen Form verhindern wollen, haben Ungarn und Polen ein Veto gegen den EU-Haushalt eingelegt. Den jeweiligen Regierungen wird schon seit Jahren vorgeworfen, den Rechtsstaat auszuhebeln. Immer wieder machen sie Schlagzeilen mit Maßnahmen zu Einschränkungen der Medienfreiheit oder problematischen Justizreformen. Die europäische Antibetrugsbehörde OLAF identifiziert Ungarn außerdem als Spitzenreiter der missbräuchlichen Vergabe europäischer Fördermittel.

Die Regierungen weisen diese Vorwürfe vehement zurück. Dennoch blockieren sie nun das ausgehandelte Paket. Sie stimmten bereits gegen die Einführung des Rechtsstaatsmechanismus. Da dieser lediglich eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat brauchte, setzte sich die Mehrheit gegen die beiden Regierungen durch.

Als “Vergeltungsmaßnahme” blockieren Ungarn und Polen nun das gesamte Paket, welches einstimmig verabschiedet werden muss. Dabei machen sie sich zu Nutze, dass die EU die Gelder des Wiederaufbaufonds schnellstmöglich an die Länder leiten will, die wirtschaftlich besonders stark unter der Covid-19-Pandemie leiden. Durch die Blockade des ausgehandelten Pakets hoffen sie, genug Druck auf die anderen Mitgliedstaaten auszuüben, um die Verhandlungen über den Rechtsstaatsmechanismus erneut zu öffnen.

Plan B: Ungarn und Polen drohen leer auszugehen

Bisher geht die Rechnung der beiden Länder allerdings nicht auf: Abgesehen vom slowenischen Premierminister stehen die europäischen Staats-und Regierungschef*innen geschlossen hinter dem Rechtsstaatlichkeitsmechanismus. Auch Marek Prawda, äußert seine Bedenken, über den Mechanismus erneut in Verhandlung zu gehen. Die EU-Kommission sei nicht bereit, diesbezüglich Kompromisse zu schließen.

Auf der Suche nach Wegen aus dem EU-Haushaltspatt wurden in den letzten Wochen in Brüssel viele unkonventionelle Vorschläge diskutiert. Sogar die „nukleare Option“ der Verabschiedung des Wiederaufbaufonds ohne Ungarn und Polen steht im Raum, was eine bisher ungekannte Eskalationsstufe darstellen würde. Dabei könnten die Hilfen durch freiwillige Garantien der Staaten abgesichert werden, statt wie bisher vorgesehen direkt über den EU-Haushalt. In diesem Fall würde der von Ungarn und Polen abgelehnte Rechtsstaatlichkeitsmechanismus für den Wiederaufbaufonds eingeführt. Damit wäre eine Beteiligung Polen und Ungarns möglich, aber unwahrscheinlich. Allerdings würde den beiden Ländern durch ihr Veto große Summen an Zuschüssen entgehen: 23,1 Milliarden Euro für Polen und 6,2 Milliarden Euro im Falle Ungarns. Selmin Çalışkan und Marek Prawda sind sich einig, dass eine solche Maßnahme keine negative Auswirkung auf die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft haben darf. Regierungen seien nie mit ihrer Bevölkerung gleichzusetzen, so Selmin Çalışkan. Stattdessen fordert sie effektive Maßnahmen zur Stärkung der Zivilgesellschaft in ganz Europa.

Shrinking Spaces für die Zivilgesellschaft – ein globales Problem

Funktionierende Demokratien brauchen eine starke Zivilgesellschaft, die kritischen politischen Diskurs ermöglicht und neben den Medien auch eine wichtige Kontrollfunktion innehat. Allerdings weist Selmin Çalışkan darauf hin, dass nicht nur in Problemländern wie Polen und Ungarn die Räume für zivilgesellschaftliches Engagement kleiner werden. Das als „Shrinking Spaces“ bezeichnete Phänomen zeige sich in ganz Europa und auch global. So verabschiedete Spanien bereits vor einigen Jahren ein Sicherheitsgesetz, das Demonstrationen vor öffentlichen Gebäuden einschränkt und die Verbreitung von Fotomaterial von Polizeieinsätzen bestraft, wenn dieses als Gefahr für zukünftige Polizeioperationen eingeschätzt wird. In Frankreich führte jüngst ein ähnlicher Gesetzentwurf zur Beschränkung der Dokumentation von Polizeieinsätzen zu Protesten und wurde daraufhin vorerst zurückgezogen. Darüber hinaus war die Corona-Pandemie für viele Regierungen Anlass, Notstände zu verkünden, die auch eine Einschränkung von Presse- und Versammlungsfreiheit mit sich brachten.

Auf der anderen Seite versuchen NGOs wie die Open Society Foundations gerade in den Ländern, in denen es proeuropäische und progressive Strömungen schwer haben, deren Akteur*innen zu stärken. Selim Çalışkan berichtet etwa von der Unterstützung von Kommunen in den Visegrád-Staaten - das sind Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei - denen eine Plattform zur Vernetzung und Hilfe bei der Bereitstellung etwa von Gesundheitsangeboten angeboten wird. Dabei gibt es allerdings zahlreiche Hindernisse, die die europaweite Arbeit von NGOs behindern: Beispielsweise werden Spenden aus dem Ausland in vielen Ländern stark reglementiert und bürokratische Hürden erschweren Aktivitäten.

Ein Binnenmarkt für die organisierte Zivilgesellschaft?

Selmin Çalışkan fordert insbesondere von der EU ein starkes Eintreten für die europäische Zivilgesellschaft und verweist auf die Idee eines „Binnenmarkts für Philanthropie“. Hierbei schwebt ihr vor, dass nicht nur Unternehmen problemlos in ganz Europa handeln und agieren können sollten. Auch gemeinnützige Stiftungen und NGOs, die derzeit oft mit hohen regulatorischen Hürden zu kämpfen haben, sollten durch europäisches Recht besonders geschützt werden. So fordert der Interessenverband „Philanthropy Advocacy“ etwa eine eigene EU-Rechtsform für Non-Profit-Organisationen, die den Aufwand für europaweites Engagement reduzieren und Rechtssicherheit geben könnte.

Für junge, diverse Stimmen in Politik und Zivilgesellschaft

Selmin Çalışkan betont auch positive Veränderungen, die sich gerade im Bereich des aktuellen politischen Aktivismus zeigten: Die Stimmen der Aktivist*innen würden deutlich diverser. Beispielsweise Frauen beteiligten sich vermehrt an Demonstrationen, wie gegen das Abtreibungsverbot in Polen, den pro-demokratischen Protesten in Belarus und der Black-Lives-Matter Bewegung in den USA. Daran anknüpfend schaltete sich Clara Föller, Bundesvorsitzende des proeuropäischen Jugendverbands Junge Europäischen Föderalisten, ein und fragte nach Möglichkeiten der Stärkung junger Stimmen in Politik und Zivilgesellschaft. Die in großen Teilen proeuropäische Jugend laufe Gefahr, entmutigt zu werden, wenn sie in Europa weiterhin politisch unterrepräsentiert bleibe.

In ihrer Antwort verwies Selmin Çalışkan auf die Idee der „Diversity-Quote“, die auf dem Konzept der Frauenquote aufbaut und diese auf breitere Gruppen ausdehnen will. Wichtige politische Positionen sollten anteilig mit unterrepräsentierten Gruppen besetzt werden, wobei neben Frauen auch LGBTIQ*-Personen, behinderte oder ärmere Menschen und eben auch junge Leute berücksichtigt werden sollten.

Lassen sich die polnische und ungarische Regierung umgehen?

Im Streit um den EU-Haushalt für 2021 bis 2027 prüft die EU-Kommission nun die “nukleare Option”, das Budget ohne Ungarn und Polen zu verabschieden. Sowohl für Selmin Çalışkan als auch Marek Prawda steht fest, dass es Möglichkeiten für die EU geben sollte, die Regierungen von Mitgliedsstaaten im Notfall bei der Mittelvergabe zu umgehen. So sollten EU-Fördergelder bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit direkt an die Förderungsempfänger*innen gehen können und auch die direkte Unterstützung der Zivilgesellschaft vor Ort möglich sein. Durch eine solche Umgehungsmöglichkeit könnten Regierungen in ihre Schranken gewiesen werden, ohne zugleich die Bevölkerungen zu bestrafen. Dass solche Maßnahmen nur im absoluten Ausnahmefall eingesetzt werden sollten, betonte Marek Prawda: „Diese Sanktionen sind in erster Linie dafür gedacht, nicht eingesetzt zu werden. Ihr Ziel ist, Druck zu machen.“

Mit einem Blick auf den aktuellen Haushaltsstreit, waren sich die Redner*innen einig: Die EU muss ein klares Signal für die Einhaltung von Mindeststandards senden – und darf vor allem die Zivilgesellschaft nicht im Stich lassen. Denn diese spielt eine fundamentale Rolle für eine intakte Demokratie.


Während des Bürgerdialogs wurde von Christine Oymann ein Graphic Recording der Diskussion erstellt. Copyright: Christine Oymann/ Europa-Union Deutschland e.V.

Dieser Beitrag ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Europa-Union Deutschland und treffpunkteuropa.de entstanden, in der wir über die bundesweite Bürgerdialogreihe „Europa? Wir müssen reden!“ berichten. Die Bürgerdialoge schaffen durch interaktive Formate den Rahmen, um auch abseits von Wahlen politische Beteiligung zu ermöglichen. Mehr Infos gibt es hier. treffpunkteuropa.de ist Medienpartner der Reihe und erhält im Rahmen dieser Partnerschaft eine Aufwandsentschädigung. Die Inhalte der Berichterstattung sind davon nicht betroffen. treffpunkteuropa.de ist frei und allein verantwortlich für die inhaltliche und redaktionelle Gestaltung seiner Artikel.
Ihr Kommentar
Vorgeschaltete Moderation

Achtung, Ihre Nachricht wird erst nach vorheriger Prüfung freigegeben.

Wer sind Sie?

Um Ihren Avatar hier anzeigen zu lassen, registrieren Sie sich erst hier gravatar.com (kostenlos und einfach). Vergessen Sie nicht, hier Ihre E-Mail-Adresse einzutragen.

Hinterlassen Sie Ihren Kommentar hier.

Dieses Feld akzeptiert SPIP-Abkürzungen {{gras}} {italique} -*liste [texte->url] <quote> <code> et le code HTML <q> <del> <ins>. Absätze anlegen mit Leerzeilen.

Kommentare verfolgen: RSS 2.0 | Atom