Studierendenproteste in Istanbul: Europa, wo bist du?

, von  Rohat Akcakaya

Studierendenproteste in Istanbul: Europa, wo bist du?
Die Studentenschaft der Boğaziçi Universität in Istanbul demonstriert gegen die Ernennung von Melih Bulu als neuen Universitätspräsidenten. Foto: Zur Verfügung gestellt von Ozan Acidere.

Zum Jahreswechsel hat die türkische Regierung mit Melih Bulu einen Wissenschaftler mit politischer Nähe zur AKP an der Boğaziçi Universität zum neuen Universitätspräsidenten ernannt. Seit mittlerweile 24 Tagen fordern Studierende, akademische Mitarbeiter*innen und Professor*innen ihr Recht ein, ihre Universitätsleitung selbstbestimmt wählen zu dürfen. Ein Plädoyer, warum uns die Ereignisse an der Boğaziçi Universität als Europäer*innen nicht kalt lassen dürfen.

Zum 31. Januar werde ich nach einem intensiven Bachelor-Studium erfolgreich exmatrikuliert. Hierbei darf ich auf ein Studium zurückblicken, in dem mich kritische und freie Diskurse zur Reflexion meiner eigenen Perspektiven anregten. Eine Art des Studiums, in denen bestehende Denkmuster herausgefordert und die eigenen Standpunkte geäußert und anschließend kritisch hinterfragt werden, wurde mir spätestens mit meinem Auslandssemester an der Boğaziçi Universität als Privileg bewusst.

Als Nachfahre von Gastarbeitern mit anatolischer Migrationsgeschichte kannte ich die Türkei vor meinem Aufenthalt nur durch vereinzelte Besuche in den Sommerferien, die eher mit langen Autofahrten aus Nordrhein-Westfalen in die Türkei oder mit obligatorischen Besuchen, bei zuvor noch nie gesehenen Verwandten, in Erinnerung blieben. Wie viele andere Menschen, war und ist mein Leben auch von ständigen Identitätskonflikten begleitet: Von Aussagen wie gut mein Deutsch sei, über bohrende Nachfragen wie ich zu Mesut Özil stünde, bis hin zu der ultimativen Frage, ob ich denn nun Deutscher oder Türke sei - ich kann ein Lied von all dem singen, dessen Strophen mindestens hunderttausende Menschen in Deutschland blind nachsingen können.

Mit meinem Auslandssemester an der Boğaziçi Universität ergab sich nun eine Möglichkeit, endlich ein persönliches Bild von Istanbul zu bekommen. Mir war zu dem Zeitpunkt bereits bewusst, dass sich Istanbul spätestens mit den Gezi-Protesten nachhaltig verändern sollte. Damals protestierten je nach Quelle, zwischen mehreren Hunderttausend bis zu Millionen Menschen, aus verschiedensten gesellschaftlichen Gruppierungen gegen die türkische Regierung. Ebenso wurden Demonstrationen in einer beispiellosen Dimension von Polizeigewalt niedergeschlagen oder durch Verschwörungstheorien delegitimiert. Der eingeschlagene Weg der türkischen Regierung reflektierte sich folglich auf dem Taksim-Platz: Wo vorher konservative Muslime, Alkohol trinkende Kemalist*innen oder auch die LGBTQI-Community Istanbuls sichtbar waren, hallte das Trauma der Gezi-Proteste in Form einer stärker werdenden konservativen Monokultur in Istanbul nach.

Umso größer ist meine Wertschätzung für die erlebte Campusrealität an der Boğaziçi Universität, wo die breite Vielfalt Istanbuls erhalten blieb. Auf dem stets belebten Hauptcampus organisierten Studierende gleich an meinem ersten Tag eine Kundgebung für eine sozial gerechte Universität, nachdem die Mensapreise signifikant gestiegen waren. Ich erinnere mich dabei ganz genau, wie eine Studentin mit Kopftuch sprach, während hinter ihr andere Studierende Regenbogenfahnen schwangen. In meinen besuchten Kursen stritten konservative und kritische Studierende in einem vergleichsweisen freien Diskurs für ihre vielfältigen Vorstellungen einer Türkei. Ich denke hier einerseits an Studierende, die für stärkere pan-islamische Allianzen in West-Asien rangen, während andererseits für andere Studierende die historisch gewachsenen Brücken zu Europa und den Vereinigten Staaten unantastbar erschienen und wieder gestärkt werden sollten.

Was bedeutet die Ernennung des neuen Universitätspräsidenten?

Heute blicke ich, wie Studierende und Professor*innen vor Ort, mit großer Sorge darauf, ob diese vielfältige Campusrealität noch nachhaltig bestehen wird. Mit der Ernennung von Melih Bulu als neuen Universitätspräsidenten ging ein Einschnitt einer traditionsreichen Universitätskultur einher, in der die Boğaziçi Universität stets in Selbstbestimmung ihre Universitätsleitung wählen durfte. Dabei löst die Personalie Melih Bulu mehre kontroverse Diskussionen aus: Erstmals seit 1980 wurde die Universitätsleitung nicht nur extern bestimmt, sondern mit Melih Bulu wurde auch eine Person ernannt, die mit der Gründung eines AKP-Ortsverbandes in Istanbul-Sariyer einen politischen Beigeschmack mit sich trägt. Zudem wird Bulu aktuell mit Plagiatsvorwürfen schwer belastet. Insgesamt drückt sich eine Sorge aus, wonach mit der Boğaziçi Universität ein weiterer Lebensraum in Istanbul zerstört werden soll, an dem die Vielfalt dieser wundervollen Stadt noch lebt. Zwischenzeitliche Auflösungen von friedlichen Studierendenprotesten durch Polizeigewalt und kurzzeitige Festnahmen von Protestierenden bestärken diese Sorge.

Die Bilder der Proteste und die geäußerten Sorgen unserer türkischen Freund*innen ließen weder mich noch andere ehemalige europäische Austauschstudierende unberührt. Nur zu gerne denken wir an jenen Ort zurück, der uns mit seiner Vielfalt, seinen freien und kritischen Diskursen ein komplexes Bild der Türkei vermittelt hat. Genauso gerne denken wir an einen Ort zurück, der uns nicht nur europäisch-türkische Beziehungen mit gemeinsamen Diskussionen, Reisen und nachhaltigen Freundschaften leben lassen hat. Vielmehr erinnern wir uns an die Boğaziçi Universität als den Ort zurück, der uns die Bedeutung einer transnationalen Welt viel besser gelehrt hat als es ein Sprachkurs oder eine Interrail-Reise hätte zeigen können.

Europa, wo bist du?

Wir sind davon überzeugt, dass mit Melih Bulu eine neue Universitätskultur eingeleitet wird, mit der wir niemals unseren Weg an die Boğaziçi Universität gefunden hätten. Daher war für uns klar, dass wir uns in einer europäischen Antwort solidarisch mit unseren Freund*innen in Istanbul erklären. Mit einem offenen Brief in acht Sprachen fordern wir einen fairen Aushandlungsprozess, der die Interessen der nach wie vor tapfer kämpfenden Studierenden und Professor*innen angemessen berücksichtigt, statt sie mit Polizeirazzien oder kurzzeitigen Haftstrafen zu sanktionieren. Umso mehr freuen wir uns, dass bereits zahlreiche Politiker*innen, Studierendenorganisationen und NGO’s aus ganz Europa uns in unserem Aufruf beistehen und hoffen jetzt, dass die Stimmen aus Istanbul bald in Brüssel gehört werden.

Viel zu oft hat es die Europäische Union versäumt, unsere so oft deklarierten europäischen Werte bedingungslos zu verteidigen und solidarisch mit jenen zu stehen, die für diese Werte einstehen. Hierbei denke ich an die starken Frauen in Warschau, die gegen das beschlossene Abtreibungsverbot in Polen kämpfen, an die Wissenschaftler*innen in Budapest, die für die Freiheit der Wissenschaft streiten oder auch an jene Stimmen, die für ein Ende der Festung Europa ringen, an dessen Grenzen europäische Werte im wahrsten Sinne des Wortes ertrinken. Zu dieser Reihe zählen wir heute auch unsere Freund*innen in Istanbul dazu.

Die Boğaziçi Universität steht als Institution nicht nur für einen freiheitlichen und kritischen Diskurs, sondern vor allem für nachhaltige europäisch-türkische Brücken. Damit europäisch-türkische Beziehungen eine Zukunft haben können, in der die Boğaziçi Universität ihre Rolle als Multiplikator weiter ausüben kann, bitte ich Sie aufrichtig:

Hören Sie die Menschen in Istanbul, hören Sie uns.

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