Nach dem Vertrag von Maastricht fand sich die neugeschaffene Europäische Union in einem Zustand intergouvernementaler Zusammenarbeit in Migrationsfragen. Obwohl die Migrationspolitik in den Aufgabenbereich der EU gebracht worden war und supranationale Organe, wie die Kommission und das Parlament, eingeschränkte Beteiligungsrechte erhalten hatten, behielten die Mitgliedsstaaten durch die notwendige Einstimmigkeit im Rat ihr Vetorecht. Dieses Vetorecht und die relative Schwäche der dem Rat zur Verfügung stehenden Handlungsformen führte zu einer geringen Anzahl verbindlicher und effektiver Entscheidungen in der Migrationspolitik auf europäischer Ebene.
Eingeschränkte supranationale Kooperation im Amsterdamer Vertrag
Diese eingeschränkte Entscheidungsfähigkeit war im Jahr 1997 ein Grund für die erneute Reform der EU-Migrationspolitik durch den Vertrag von Amsterdam. Dieser überführte weite Teile der Migrationspolittik, wie etwa die Asylpolitik, von der intergouvernementalen dritten Säule der Europäischen Union in den Aufgabenbereich der supranationalen Europäischen Gemeinschaften. Gleichzeitig setzte der Vertrag das europäische Ziel einer Vereinheitlichung des Asylrechts und einer Rechtsharmonisierung in der Migrationspolitik.
Diese Supranationalisierung der Migrationspolitik veränderte auch die relative Stellung der europäischen Organe in diesem Politikfeld. So wurde durch den Vertrag von Amsterdam in Migrationsfragen ein Wechsel zum alleinigen Initiativrecht für die Kommission, zur qualifizierten Mehrheitsentscheidung im Rat und zum parlamentarischen Mitentscheidungsrecht angestoßen, während der Europäische Gerichtshof eingeschränkte Rechtssprechungskompetenzen erhielt. Darüber hinaus,wurden dem Rat für migrationspolitische Entscheidungen die stärkeren Handlungsformen der Verordnung und der Richtlinie zur Verfügung gestellt.
Der Vertrag von Amsterdam vergemeinschaftete auch frühere intergouvernementale Strukturen. So wurde das außergemeinschaftliche Schengener Übereinkommen in den rechtlichen Rahmen der Europäischen Union integriert. Einige Jahre später wurde auch das zwischenstaatliche Dubliner Übereinkommen in Form der Dublin-II Verordnung in das EU-Recht übertragen.
Eine neue Union: Migrationspolitik im Vertrag von Lissabon
Der nächste bedeutende europäische Integrationsschritt mit Einfluss auf die Migrationspolitik war der Vertrag von Lissabon. Als Reaktion auf den an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten europäischen Verfassungsvertrag im Jahr 2007 unterzeichnet, nahm dieses Abkommen große Änderungen an den Strukturen und Kompetenzen der europäischen Institutionen vor. Die Europäische Union verschmolz mit der Europäischen Gemeinschaft und übernahm mit der Abschaffung des Drei-Säulen-Modells ihre Rechtspersönlichkeit. Dieser Prozess ging mit zusätzlichen migrationspolitischen Kompetenzen und Aufgabenbereichen für die neue Europäische Union einher.
Mit dem Vertrag von Lissabon wurde das neue ordentliche Gesetzgebungsverfahren (qualifizierte Mehrheitsentscheidung im Rat und Mitentscheidungsrechte für das Parlament mit einem alleinigen Initiativrecht der Kommission) zum hauptsächlichen Entscheidungsprozess in der EU-Gesetzgebung- so auch in der Migrationspolitik. Gleichzeitig erhielt der Europäische Gerichtshof die volle Jurisdiktion über Migrations- und Asylpolitik.
Fazit: Viel Veränderung in vier Jahrzehnten
Diese strukturellen Reformen und Kompetenzveränderungen der Organe waren der Abschluss eines vierzigjährigen Prozesses der Supranationalisierung von europäischen Entscheidungs- und Handlungsverfahren in der Migrationspolitik. Aber obwohl zur Zeit nicht mit einem neuen grundlegenden EU-Reformvertrag zu rechnen scheint, ist die Weiterentwicklung der europäischen Migrationspolitik, vorangetrieben etwa durch neue Gesetzesvorschläge der Kommission und unterschiedliche Reaktionen der Mitgliedsstaaten auf steigende Asylbewerber*innenzahlen, keineswegs abgeschlossen.
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