Türkei-Abkommen: Die große Erpressung

, von  David Schrock

Türkei-Abkommen: Die große Erpressung
Der türkische Präsident Recep Erdogan (links) und der Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk. © Kancelaria Premiera / Link/ CC BY-NC-ND 2.0-Lizenz

Die Türkei ist im Jahr 2016 zu einem der wichtigsten Partner der Europäischen Union geworden. Man kann mit Fug und Recht vermutlich sogar behaupten, dass die Türkei einen entscheidenden Anteil daran hat, dass sich die Europäische Union – bedingt durch die „Flüchtlingskrise“ – nicht mittlerweile selbst zerlegt hat. Dabei hat der türkische Staatspräsident zunächst die EU erpresst und ist nun Deutschland dabei behilflich, ihrerseits die EU zu erpressen, nachdem die EU-Staaten zuvor Deutschland quasi erpresst haben.

Erdogans Machtdemonstration

Aber alles der Reihe nach: Der Autor dieser Zeilen hat einen Schüler, der regelmäßig darauf verweist, dass „Türken ein extremes Bedürfnis haben, respektiert zu werden“ und dass sie „Stress machen“, wenn „man ihnen nicht den gebührenden Respekt“ erweist. Nun weist der Autor ebenso regelmäßig diese dem Rassismus zuneigenden kollektiven Eigenschaftszuschreibungen des Schülers zurück. Herr Erdogan gibt sich jedoch alle Mühe, dass zumindest er diesem Stereotyp entspricht. Seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen, sein Aufstiegsdrang, sein Zwang, die subjektiv als Makel empfundene „niedrige Herkunft“ durch großspuriges Gehabe im Stile eines „Halbstarken“ (Der Spiegel) zu kompensieren, macht ihn bei seinen Anhängern umso beliebter. Erdogan lässt sich nichts bieten, er will der Anführer der sunnitischen Muslime des Nahen und Mittleren Ostens sein und wird sich selber in seinem 1000 Zimmer-Palast auf dem Weg zum neuen Sultan sehen.

Einzig, die EU hatte ihm bis zur Flüchtlingskrise immer wieder seine doch so dringend gewünschte Anerkennung verweigert. Die EU hatte aus Erdogans Sicht „keinen Respekt“. Was tun Halbstarke in so einem Moment? Sie warten auf die passende Gelegenheit, um sich bei den „Respektlosen“ zu rächen. Irgendwann zwischen den Jahren 2012 und 2013 muss dem türkischen Staatschef dann die Idee gekommen sein, die Flüchtlingskrise für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Im Osten seines Landes beherbergte er über 2 Millionen Flüchtlinge, die sich als politische Waffe missbrauchen ließen. Dabei war ihm zweierlei bewusst: wenn er Teile der Flüchtlinge an die Ägäis weiterreisen ließe, würde die EU in das Dilemma zwischen der bisherigen Abschottung gegenüber (muslimischen) Flüchtlingen einerseits und der humanitären Verpflichtung gegenüber vor Krieg und Verfolgung flüchtenden Schutzsuchenden geraten. Sprach die EU nicht immer über die Nichteinhaltung von Menschenrechtsstandards in der Türkei? Da sollte die EU mal zeigen, wie sie es in der Realität besser machen würde.

Die EU als tönerner Koloss

Erdogan und ein Großteil der Türken vermuteten seit Langem, dass die EU selbst nur große Worte machte, aber im Ernstfall nicht bereit sein würde, gemeinsame humanitäre Hilfe zu leisten, die einem Nobelpreisträger würdig sein würde. Und wie konnte es anders kommen? Der tönerne Koloss EU zeigte einmal mehr eindrucksvoll, mit welch einfachen Mitteln es möglich ist, ihn an den Rand des Zusammenbruchs zu bringen. Der Vertrag von Lissabon und die Dublin-Abkommen haben in Asylfragen keine ausreichenden Mechanismen vorgesehen, um tatsächlich Flüchtlinge in größerer Zahl aufzunehmen. Wieder einmal hatte die EU nicht die notwendigen rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen geschaffen, um der Herausforderung durch Herrn Erdogan zu begegnen. Hätte man sich vor der durch Erdogan maßgeblich initiierten Flüchtlingswelle auf ein europäisches Asylverfahren mit einheitlichen Mindeststandards und einer festen Verteilungsquote anstatt des völlig unbrauchbaren Dublin-Systems geeinigt, wäre Herr Erdogan seines Machtmittels beraubt gewesen. So aber geschah, was Herr Erdogan beabsichtigte. Ein Staat nach dem anderen auf der Balkan-Route schloss unipolar seine Grenzen und zeigte mit dem Finger auf den anderen, der sich ja ach so unsolidarisch gezeigt hatte.

Die EU wäre durch die osteuropäische Verweigerungshaltung insbesondere gegenüber der Aufnahme von muslimischen Einwanderern schon Mitte 2015 moralisch völlig desavouiert gewesen, wäre nicht Frau Merkels Bundesregierung bereit gewesen, jenen „Überschuss“ an Flüchtlingen, den die Nachbarstaaten Deutschland nicht aufnehmen wollten, ebenfalls ins Land zu lassen – der Plan Erdogans bekam mehr als eine Schönheitsdelle. Es kam soweit, dass sich Deutschland von den anderen EU-Mitgliedsstaaten „Tugendterror“ vorwerfen lassen musste – dabei hatten diese schlicht ihre humanitäre Verpflichtung verweigert und sich obendrein geweigert, an einer europäischen Gesamtlösung im Rahmen einer Verteilquote mitzuwirken. „Das ist das Problem von Deutschland“ hörte man allerorten und tatsächlich: hätte sich auch Deutschland dem ungarischen und slowenischen und schließlich österreichischen Beispiel folgend geweigert, Flüchtlinge (weiterhin) aufzunehmen, wäre der Flüchtlingsstrom sich nicht derart stark angeschwollen. Auch Herr Erdogan hatte nach dem Öffnen der „der Schleusen“ in den osttürkischen Flüchtlingslagern nur noch bedingten Einfluss auf die Steuerung der Flüchtlingsbewegung.

Die eiserne Kanzlerin und der Sultan

Angela Merkel hoffte bis zuletzt, dass die übrigen EU-Mitgliedsstaaten sich einer gemeinsamen Strategie nicht verweigern würden – mitgeschwungen ist dabei sicher auch die Hoffnung, dass sie darob nicht am Ende bei Herrn Erdogan zu Kreuze kriechen müsste, um die Schließung der „Schleuse“ zu erbitten. Die EU hätte die Chance gehabt, aktiv Politik zu gestalten und hat sie einmal mehr vertan. Dabei ist auch Frau Merkel keinesfalls unschuldig – entsprechend ihrem Politikstil hatte sie es vermieden, im Jahr 2012/2013 ein europäisches Asylrecht anzumahnen, als Italien und Griechenland um eine solche gemeinsame Initiative ersucht hatten. Damals verwies man auf die geltende Rechtslage von „Dublin“ und ließ die Südeuropäer am ausgestreckten Arm verhungern.

Erst das Aufkommen der AfD und ihre (drohenden) Wahlerfolge ließen Frau Merkel ihren letzten Joker zücken: das Bündnis mit Erdogan. Nachdem die EU sich in der Flüchtlingspolitik derart uneins und vor allem unmenschlich gezeigt hatte, erscheint dieser Schachzug auch gar nicht mehr so verwerflich. Die Türkei verfolgt zwar die Kurden, gängelt die letzten unabhängigen Journalisten und hat die unabhängigen Gerichte sowie die Justiz zerlegt, aber wo ist noch der qualitative Unterschied zum Verhalten der EU im Angesicht eines Flüchtlingslagers von Idomeni?

Frau Merkel besann sich also schließlich ebenfalls auf unilaterales Vorgehen. Sie besuchte Sultan Erdogan in seinem Palast und schmiedete mit ihm eine Erpressung der eigenen Leute und gewährte im Gegenzug das, wonach Erdogan schon so lange gierte: Respekt und Anerkennung seiner Stellung als legitimer Sprecher einer neuen islamistischen Bewegung in die Zeit vor der Gründung der kemalistischen Republik.

Wie mag das Gespräch zwischen den beiden wohl abgelaufen sein? Der Autor stellt sich das Gespräch in etwa so vor: Herr Erdogan wird vermutlich ganz unverhohlen seine oben skizzierte Strategie ausgebreitet haben und verlangt haben, dass man seinem Land und insbesondere auch seiner Person endlich jenen Respekt zollt, den es aus seiner Sicht verdient und der ihm durch das verschleppte Beitrittsverfahren zur EU bislang verwehrt geblieben sei. Frau Merkel hingegen wird Erdogan deutlich gemacht haben, dass sie das Ränkespiel quasi erfunden und dass er sie bitte nicht nötigen möge, ihm öffentlich ihr vollstes Vertrauen auszusprechen. Anschließend wird Merkel folgenden Plan vorgestellt haben: Erdogan bekommt Respekt von der EU, sechs Milliarden Euro und Visaerleichterungen für seine Bürger und kann sich in dem Triumph sonnen, die EU mit seiner Strategie blamiert zu haben. Merkel wiederum wird die Flüchtlinge über die Balkanroute los und muss sich nicht mehr alleine um sie kümmern. Die Verhandlungsstrategie von Frau Merkel und Erdogan gegenüber den anderen EU Staaten präjudizierte sich damit quasi und zeigte Erstaunliches. Erdogans Gehilfe, Ministerpräsident Davotuglu, musste gegenüber der EU nur noch fordern, dass sie für jeden Flüchtling aus der Ägäis einen anderen aus den türkischen Flüchtlingslagern im Osten aufnehmen musste. Merkel hatte nun gegenüber ihren EU-Kollegen jenes Druckmittel in der Hand, das sich diese letztes Jahr noch freiwillig hätten ersparen können: entweder sie akzeptieren eine Quotenregelung zur Flüchtlingsaufteilung oder es gibt kein Abkommen. Unausgesprochen wird dabei im Raum gestanden haben, dass Deutschland das Spiel, Flüchtlinge einfach ins nächste Land weiterzuschieben, auch beherrschen würde, wenn es denn nötig würde. Da war der Merkel-Erdogan Deal, den wir alle nun als „EU-Türkei-Abkommen“ kennen, dann wohl doch die annehmbarere Alternative.

Unterm Strich steht ein Trauerspiel

Betrachtet man dieses europäische Desaster, verblasst die Euro-Krise geradezu zur Provinzposse. Und mittlerweile kann sich Herr Erdogan sogar ungestraft in die deutsche Innenpolitik einmischen und den deutschen Botschafter ungestraft wegen einer Satiresendung einbestellen. Was für ein Trauerspiel auf dem Rücken der Allerschwächsten.

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