Unter Premierminister Viktor Orbán hat sich Ungarn zum “Enfant terrible” der EU entwickelt. Ob durch zahlreiche Verstöße gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das Blockieren von Unterstützung für die Ukraine oder die Veruntreuung von EU-Geldern - mit seinem Politikstil hat sich der 61-Jährige in Brüssel keine Freunde gemacht. Seitdem er 2010 mit seiner rechtskonservativen Fidesz-Partei einen Erdrutschsieg bei den ungarischen Parlamentswahlen erzielte, der ihm eine Zweidrittelmehrheit und damit die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern, bescherte, hat Orbán das politische System des Landes komplett umgekrempelt. Seine Partei verabschiedete eine komplett neue Verfassung, die das Wahlrecht zugunsten von Fidesz reformierte, übte Druck auf freie und unabhängige Medien aus und schränkte die Rechte von Minderheiten ein, wie etwa der LGBT-Gemeinschaft und Flüchtlingen.
Währenddessen hat es die ungarische Opposition nicht geschafft, Orbáns Partei auch nur ansatzweise gefährlich zu werden. Ungarns Sozialdemokraten (Magyar Szocialista Párt, MSZP), die von 2002 bis 2010 die Regierung stellten, mussten infolge des Scheiterns ihrer marktradikalen Politik und eines handfesten Skandals um Premierminister Ferenc Gyurcsány, der zugegeben hatte, die Wähler belogen zu haben, stark an Unterstützung einbüßen. Durch die Unterdrückung freier Medien wurde es für Oppositionsparteien zudem zunehmend schwerer, ihre Standpunkte an die Öffentlichkeit zu tragen.
Auch eine Bündelung der Kräfte im Oppositionsbündnis Egységben Magyarországért (EM, dt.: Gemeinsam für Ungarn) bei den Parlamentswahlen 2022, in dem von der extrem-rechten Jobbik bis hin zur grünen LMP Parteien aus dem gesamten ideologischen Spektrum vertreten waren, konnte Orbáns Momentum nicht stoppen. Stattdessen erzielte Fidesz mit 54.13% das beste Ergebnis einer einzelnen Partei seit 1990 und errang zum vierten Mal in Folge eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.
Magyars Aufstieg
Umso größer war die Überraschung, als bei den Europawahlen im letzten Jahr die junge TISZA-Partei unter Führung von Péter Magyar aus dem Stand ein Ergebnis von 29,6% erzielte. Magyar hatte im Wahlkampf scharfe Kritik an der wirtschaftlichen Lage des Landes sowie an der Aushöhlung des Rechtsstaats unter Fidesz geäußert. „Eine Ära geht heute zu Ende. Heute hat die Zukunft begonnen. Danke für eure Hilfe!“, verkündete Magyar vor seiner versammelten Anhängerschaft nach Bekanntwerden der Ergebnisse.
Der Aufstieg Magyars zum vielversprechendsten Konkurrenten Orbáns kam genauso plötzlich wie unerwartet. Als langjähriges Parteimitglied von Fidesz hatte er zuvor politisch verhältnismäßig unbedeutende Ämter im ungarischen Außenministerium sowie in der Ständigen Vertretung Ungarns in Brüssel bekleidet und galt als treuer Orbán-Anhänger.
Dann überschlugen sich jedoch die Ereignisse: Anfang Februar 2024 traten Ungarns Präsidentin Katalin Novák und Justizministerin Judit Varga - Magyars Ex-Frau - zurück, nachdem bekannt geworden war, dass sie einen Mann begnadigt hatten, der als Vizedirektor eines Kinderheims versucht hatte, sexuellen Missbrauch von Kindern zu vertuschen, indem er Opfer zum Rückzug ihrer Zeugenaussagen zwang.
Im Zuge des Skandals trat Magyar aus Fidesz aus und organisierte Proteste gegen die Regierungspartei in Budapest, die von zehntausenden Gleichgesinnten besucht wurden. Der 44-Jährige bezichtigte Fidesz der Korruption und des Machtmissbrauchs und prangerte die grassierende Vetternwirtschaft im Land an. Zudem kündigte er seine Teilnahme an den Europawahlen an, um “den ersten Sargnagel” in das Orbán-System zu hämmern.
Hierfür musste Magyar jedoch erstmal eine neue Partei finden. Die Fristen für die Anmeldung einer neuen Partei für die Wahl waren bereits längst verstrichen, weswegen das ehemalige Fidesz-Mitglied im April letztlich TISZA, einer in der Versenkung rumdümpelnden Kleinpartei, beitrat. 2020 von den Besitzern eines Lokalradios als Mitte-Rechts-Partei gegründet, verzichtete TISZA aufgrund fehlender finanzieller Mittel auf eine Teilnahme an den Parlamentswahlen 2022 und verschwand daraufhin vorerst von der politischen Bildfläche. Neuen Schwung brachte erst Magyars Parteibeitritt lediglich 2 Monate vor den Europawahlen rein, der daraufhin auch postwendend zum Vizepräsidenten und später zum Parteivorsitzenden gewählt wurde.
Umfragehoch und inhaltliche Lücken
Nach seinem Achtungserfolg bei den Europawahlen hat Magyar bereits das nächste Ziel ins Auge gefasst: die nächstjährigen Parlamentswahlen in Ungarn, bei denen Viktor Orbán seine insgesamt sechste Amtszeit anstrebt. Allerdings könnten die Wahlen eine kalte Dusche für Orbán und seine Anhängerschaft werden: Seit Dezember verdrängt TISZA Fidesz in landesweiten Umfragen auf den zweiten Rang, wobei der Abstand zwischen beiden Parteien bis April 2025 auf 7 Prozentpunkte (43,5% vs. 36,5%) anwuchs.
Während Magyar durchs Land reist und mit unzufriedenen Wählern spricht, scheint sich bei Orbán langsam Panik breit zu machen. Zuletzt verschärfte dieser seine Rhetorik, indem er seine politischen Gegner als „Wanzen“ beschimpfte, und brachte das Verbot von Gay-Pride-Paraden auf den Weg, mit dem er seine Basis aufheizen will. Zudem werden namhafte Persönlichkeiten, die sich TISZA angeschlossen haben, von staatlichen Institutionen offen drangsaliert und angeprangert.
Dass Magyar Orbán Angst einjagt, ist kaum von der Hand zu weisen. Doch darüber, wie der ausgebildete Jurist konkret die Probleme im Land anpacken würde, ist derzeit noch relativ wenig bekannt. Bisher fußt die Beliebtheit seiner Bewegung in ihrem Versprechen, mit der Korruption und dem Machtmissbrauch von Fidesz aufzuräumen. Einige Vorhaben hat Magyar bereits formuliert: Ungarn soll fest in der EU und NATO verankert bleiben, die von der EU eingefrorenen Gelder sollen durch das Eindämmen der Korruption freigesetzt werden, und das Land soll sich der EU-Staatsanwaltschaft anschließen.
Eine komplette 180-Grad-Wende in Bezug auf Ungarns bisherigen Kurs ist allerdings nicht zu erwarten. Magyar setzt sich für ein “pragmatisches” Verhältnis zu Russland ein, von dem Ungarn vor allem im Bereich Energie durch den Bau des Kernkraftwerks Paks abhängig ist, und lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Auch bei den Themen Umweltschutz, Migration und EU-Erweiterung hält sich der gebürtige Budapester bedeckt. Zuletzt führte seine Partei eine Umfrage unter potenziellen Wählern durch, die ihre Meinung zu mehreren wichtigen politischen Themen abgeben sollten.
Mögliche Stolpersteine
Trotz ihres kometenhaften Aufstiegs an die Spitze der Wahlumfragen sieht sich TISZA nichtsdestotrotz mit einigen Fragezeichen und potenziellen Hürden konfrontiert, die ihr auf dem Weg zum Wahlsieg zum Verhängnis werden könnten. Vor allem ihre fehlende Regierungserfahrung und begrenzte Mitgliederzahl werfen die Frage auf, wer in einer von TISZA geführten Regierung die Zügel in der Hand haben würde. Zwar konnten bereits einige Kollegen mit Erfahrung in Ministerien und internationalen Institutionen begrüßt werden, wie etwa der ehemalige Wirtschaftsfunktionär Zoltán Tarr oder die Juristin Dóra David, doch mit gerade einmal 25 Mitgliedern (Stand: Oktober 2024) wird der Aufbau von Parteistrukturen und die Ernennung von Kandidaten nicht unbedingt zum Kinderspiel für Magyar.
Auch die (noch) vorhandene Vormachtstellung von Fidesz sowie deren Kontrolle über weite Teile der Medien stellen für Magyar eine Herausforderung dar. Seit dem überraschenden Erfolg seiner Partei bei den Europawahlen hat sich Orbáns Medienapparat auf den Überflieger eingeschossen: Mit Vorwürfen von häuslicher Gewalt und Erpressung bis hin zu finanzieller Misswirtschaft in seiner Zeit als Vorsitzender der ungarischen Organisation für Studiendarlehen hat Ungarns Fidesz-nahe Medienlandschaft alles probiert, um den politischen Emporkömmling anzuschwärzen. Obwohl diese Kampagnen noch nicht den von Orbán erwünschten Effekt auf das öffentliche Bild seines Widersachers hatten, könnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die propagandistische Dauerbeschallung Früchte für den Machthaber trägt.
Zudem lässt sich ein Jahr vor den Wahlen nur schwer vorhersagen, ob sich die derzeitige Stimmungslage im Land hält. Zum Vergleich: Ein Jahr vor den letzten Parlamentswahlen lag das Oppositionsbündnis EM auch hauchdünn vor Fidesz in den Umfragen, bevor es letztendlich eine historische Niederlage erlitt, unter anderem aufgrund Orbáns geschickter Ausschlachtung des Ukrainekriegs und einer massiven Erweiterung von Sozialbeiträgen kurz vor den Wahlen. Daher ist nicht auszuschließen, dass Orbán wieder in die Trickkiste greift und von seiner Zweidrittelmehrheit Gebrauch macht, um mit Wahlgeschenken und Propaganda Stimmen für sich zu gewinnen. Eine erst vor kurzem durchgeführte Reform der Wahlkreise, durch die die eher regierungskritische Hauptstadt Budapest zwei Kreise verlor und die Komitat Pest, eine Fidesz-Hochburg, zwei neue erhielt, zeigt, dass Orbán bereits alle Hebel in Gang setzt, um eine Niederlage zu verhindern.
Fazit
Der kometenhafte Aufstieg Péter Magyars und seiner TISZA-Partei markiert den wohl bedeutendsten Versuch seit über einem Jahrzehnt, das politische Machtmonopol Viktor Orbáns zu brechen. Während Fidesz weiterhin auf ein engmaschiges Netzwerk aus loyalen Institutionen, kontrollierten Medien und maßgeschneiderten Wahlgesetzen bauen kann, setzt TISZA auf den Wunsch vieler Ungarn nach Veränderung, Transparenz und Rechtsstaatlichkeit. Doch ob die Wut auf die Regierung ausreicht, um sie zu stürzen, bleibt offen. Noch ist unklar, ob es Magyar gelingt, aus der Protestbewegung eine regierungsfähige Kraft zu formen – oder ob auch er am ungleichen politischen Spielfeld scheitern wird, das Orbán seit 2010 zu seinen Gunsten geformt hat.
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