Wahlprogramm Check: Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Vom 06.- 09. Juni wird das Europaparlament gewählt, aber wofür stehen eigentlich die Parteifamilien auf europäischer Ebene?

, von  Philip Gaude

Wahlprogramm Check: Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Die EU steht vor großen geopolitischen Herausforderungen. Wie wollen die Parteienfamilien die Zukunft der EU im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gestalten? Foto: Wikimedia Commons, Ssolbergj, Copyright / erstellt mit Canva Pro

Die geopolitische Lage macht Verteidigungspolitik zu einem der Schlüsselthemen der Europawahl. Welche Antworten finden die europäischen Parteifamilien auf die drängenden sicherheitspolitischen Fragen? Ein Überblick.

„Europa muss wissen, wie es das, was ihm wichtig ist, verteidigen kann, und zwar gemeinsam mit seinen Verbündeten, wann immer sie bereit sind, dies an unserer Seite zu tun, und allein, wenn es notwendig ist“, fordert der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner Rede über Europa an der Pariser Sorbonne im April 2024.

Darin lässt sich das Leitmotiv europäischer Verteidigungspolitik finden: Unabhängigkeit. Es geht darum, in einer sich wandelnden Weltordnung selbst in der Lage zu sein, sicherheitspolitische Herausforderungen zu bewältigen. Gründe dafür gibt es viele, eine zentrale Frage ist etwa, wie verlässlich die amerikanische Sicherheitsgarantie nach den Präsidentschaftswahlen im November 2024 sein wird.

Für die Entwicklung von Antworten auf europäische Sicherheitsfragen gibt es die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie ergänzt seit 2009 im Rahmen des Vertrags von Lissabon die gemeinsame Außenpolitik der EU. Institutionell ist neben dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) und der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) insbesondere die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit PESCO für die Entwicklung sicherheitspolitischer Maßnahmen zuständig. In über 60 Projekten arbeiten die Mitgliedstaaten an einer engeren Verzahnung bei der Bewältigung von zivilen und militärischen Herausforderungen.

In den Wahlprogrammen der europäischen Parteifamilien lassen sich verschiedene Impulse und Ideen zur Weiterentwicklung der GSVP finden. Einige wichtige Punkte sind hier zusammengefasst:

Errichtung einer gemeinsamen europäischen Armee

Schon Winston Churchill setzte sich für die Schaffung einer europäischen Armee ein. Die Idee war während der europäischen Einigung mal mehr und mal weniger prominent. Spätestens seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine erfährt die Idee wieder breitere öffentliche und politische Aufmerksamkeit.

Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE): „Entwicklung autonomer europäischer strategischer Militärkapazitäten und deren ständige Verfügbarkeit“

Europäische Konservative und Reformer (ECR): „Wir werden uns bemühen, die NATO als wichtigsten Sicherheitsakteur zu bestätigen.“

Europäische Volkspartei (EPP): „Unser langfristiges Ziel ist die Entwicklung einer echten Europäischen Verteidigungsunion mit integrierten europäischen Land-, See-, Cyber- und Luftstreitkräften.“

Grüne: „Militärische Interventionen dürfen immer nur das letzte Mittel sein. Sie müssen auf langfristigen politischen Strategien beruhen, mit dem Völkerrecht vereinbar sein und der entsprechenden parlamentarischen Zustimmung und Kontrolle unterliegen. Wir unterstützen die Entwicklung einer europäischen Sicherheitsunion innerhalb bestehender Strukturen, die auf diesen Grundsätzen beruhen.“

Identität und Demokratie (ID): „[Die Fraktion] spricht sich gegen die Aufstellung der so genannten europäischen Armee aus.“

Linke: „Anstatt die EU zu militarisieren, braucht Europa eine politische Agenda für Frieden, Sicherheit und Abrüstung.“

Progressive Allianz der Sozialdemokraten (S&D): „Die EU muss in außenpolitischen Fragen mit einer Stimme sprechen und in bestimmten politischen Fragen zu mehr Mehrheitsentscheidungen übergehen.“ Eine europäische Armee wird im Wahlprogramm nicht erwähnt.

Volt: „Schaffung europäischer Streitkräfte unter der Kontrolle des Parlaments“

Eigene europäische nukleare Abschreckung

Das Thema der „europäischen Bombe“ wurde im Rahmen des Wahlkampfs parteiübergreifend diskutiert. So zeigte sich etwa die sozialdemokratische Spitzenkandidatin Katharina Barley offen gegenüber einer europäischen nuklearen Abschreckung, was ihr viel Kritik, auch aus eigenen Reihen, einbrachte.

Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE): Nicht im Wahlprogramm genannt

Europäische Konservative und Reformer (ECR): Nicht im Wahlprogramm genannt

Europäische Volkspartei (EPP): „Die EU muss gemeinsam mit willigen Mitgliedstaaten künftige europäische Verteidigungsprojekte in enger Zusammenarbeit mit unseren transatlantischen Partnern in Angriff nehmen, einschließlich eines Raketenabwehrschildes, einer europäischen DARPA, einer europäischen Cyberbrigade, eines europäischen Nuklearschildes und erhöhter Produktionskapazitäten für Verteidigungsgüter.“

Grüne: „Wir setzen uns für nukleare und konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung ein, einschließlich eines Verbots autonomer tödlicher Waffen und der Unterstützung des Atomwaffenverbotsvertrags und der Nichtverbreitung von Atomwaffen.“

Identität und Demokratie (ID): Unklar, aber eher dagegen: „Für die Souveränität der Staaten und Nationen, gegen jede supranationale Konstruktion“ - dazu zählt vermutlich auch eine europäisch verwaltete nukleare Abschreckung

Linke: „Beendigung des Wettrüstens in Europa: Keine neuen Atomwaffen in Europa. Machen Sie Europa zu einem atomwaffenfreien Kontinent!“

Progressive Allianz der Sozialdemokraten (S&D): Nicht im Wahlprogramm genannt

Volt: „Übertragung der Kontrolle über das französische atomare Abschreckungspotenzial auf die europäische Regierung. Dies soll nach Annahme einer europäischen Verfassung und der Einrichtung vollständig demokratischer und verantwortlicher föderaler Institutionen geschehen.“

Subvention der europäischen Rüstungsindustrie

Die Produktion von Rüstungsgütern im europäischen Inland ist Teil der strategischen Unabhängigkeit. Allerdings sorgt dieses Handeln für Skepsis in der NATO. Es komme zu unnötigen Dopplungen und zur Verzögerung von Entscheidungsfindung - also genau das, was eigentlich vermindert werden soll.

Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE): „[Die ALDE wird] einen konkreten Plan für Verteidigungsinvestitionen in Höhe von 100 Mrd. Euro vorlegen, der zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie eingesetzt werden soll.“

Europäische Konservative und Reformer (ECR): „Wir wollen die europäische Verteidigungs-, Technologie- und Industriebasis stärken, um die Entwicklung und Produktion eines vollständigen Spektrums militärischer Fähigkeiten in ausreichender Menge und in kürzester Zeit für die Mitgliedstaaten und ihre Verbündeten sicherzustellen.“

Europäische Volkspartei (EPP): „Erstens müssen wir unsere industrielle Verteidigungsbasis durch mehr Investitionen ausbauen“

Grüne: Nicht im Wahlprogramm genannt

Identität und Demokratie (ID): Nicht im Wahlprogramm genannt

Linke: „Einführung einer Steuer auf exzessive Gewinne in der Energie- und Kriegsindustrie, z. B. bei Banken und im Rüstungssektor.“

Progressive Allianz der Sozialdemokraten (S&D): „Wir unterstützen die Entwicklung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gezielte und intelligentere Ausgaben, eine stärkere gemeinsame Beschaffung von Verteidigungsgütern, eine engere Zusammenarbeit im Bereich der Nachrichtendienste und eine weitere Zusammenarbeit im Bereich der Cybersicherheit und des Schutzes kritischer Infrastrukturen.“

Volt: Nicht im Wahlprogramm genannt

Institutionelle Reformen: EU-Verteidigungsminister*in?

Aktuell ist Josep Borell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Chef der Europäischen Verteidigungsagentur. Viele Parteifamilien befürworten jedoch die Errichtung eines neuen Postens mit spezieller Befugnis im Bereich der Verteidigung.

Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE): „Einsetzung eines Europäischen Kommissars für Verteidigung, um ein einheitliches Konzept für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU zu gewährleisten.“ Außerdem fordert die Parteifamilie einen Sitz für die EU im UN- Sicherheitsrat

Europäische Konservative und Reformer (ECR): „Wir sind jedoch der Meinung, dass die Verteidigung und die militärische Bereitschaft das Vorrecht der Mitgliedstaaten bleiben sollten.“

Europäische Volkspartei (EPP): „Wir müssen auch einen Kommissar für Sicherheit und Verteidigung einsetzen, der Verteidigungsfragen im Rahmen der EU-Zuständigkeiten besser koordiniert und die Zusammenarbeit fördert, sowie einen Verteidigungsrat mit den Verteidigungsministern der Mitgliedstaaten.“

Grüne: Nicht im Wahlprogramm genannt

Identität und Demokratie (ID): „Die Fraktion lehnt den ’Konditionalitätsmechanismus’ ab, der darauf abzielt, die Mitgliedstaaten zu zwingen, bedingungslos auf die Linie der zentralisierten Europäischen Union einzuschwenken.“

Linke: Nicht im Wahlprogramm genannt

Progressive Allianz der Sozialdemokraten (S&D): „Wir müssen die diplomatische und politische Rolle der EU auf der globalen Bühne mit einem starken Europäischen Auswärtigen Dienst stärken, um die Werte und Interessen der EU zu verteidigen.“

Volt: „Schaffung eines föderalen Europas mit europäischen Parteien und einer europäischen Regierung, die von einem europäischen Premierminister geleitet wird.“

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