Am Freitag, dem 13. Juli, wurden Londons Straßen wieder von Demonstrant*innen überflutet. Zu der Zeit besuchte Donald Trump das Vereinigte Königreich, und spontane Märsche folgten ihm nicht nur in London, sondern auch in anderen Städten wie Edinburgh (wo ich an der Demonstration teilnahm). Obwohl es ein Wochentag war, demonstrierten alleine in London 250.000 Menschen. Ein mit Crowdfunding finanzierter Trump-Baby-Ballon schwebte über den Himmel von London und später den von Edinburgh.
Selbstverständlich ist der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs nun schon seit mehr als zwei Jahren im Gange, und es gibt eine starke, mobilisierte Bürgerbewegung, die seitdem erfolgreich zahlreiche Projekte mitfinanziert hat. Trump hat hingegen nur ein paar Tage im Königreich verbracht. Für diejenigen, die in Großbritannien gegen Trump protestieren wollten, war das also die Chance. Wenn man aber die beiden Demonstrationen miteinander vergleicht – die Erste sehr gut von der professionellen Wahlkampfzentrale von People’s Vote vorbereitet, die Zweite viel rascher organisiert - liegt der Schluss nahe, dass sich die Brit*innen mehr für Trump als für den Brexit interessieren.
In den Höhen des Brexit-Aufruhrs: Warum versammelt ein gut geplanter Brexit-Protest weniger als die Häfte der Menschenmenge eines spontanen Trump-Protests? Warum scheinen Brit*innen sich mehr für das Handeln eines ausländischen Präsidenten als für ihre eigene Zukunft zu interessieren?
Eine Leidenschaft für “Pussy”-Grapschen oder für parlamentarische Verfahren?
Abgesehen von der Brexit-Müdigkeit ist ein Grund dafür, dass Donald Trump unverkennbar gegen verschiedene Werte steht, auf denen die westlichen Gesellschaften aufgebaut wurden. Wer sich in einer objektiven Weltanschauung wiedererkennt, marschiert gegen Trump, weil er das Pariser Abkommen verlassen hat, oder weil seine Regierung „alternative Fakten“ mag. Wer für Geschlechtergleichstellung ist, marschiert gegen Trump wegen der „Greif sie zwischen den Beinen“-Aufnahme. Wer antirassistisch ist, bringt eine mexikanische Flagge zum Marsch mit - wie viele es auch getan haben.
Der Brexit hat wahrscheinlich auch rassistische Wurzeln, es hängt aber davon ab, ob man an Nigel Farages „Breaking Point“-Plakat oder an eine „moderatere“ Brexit-Kampagne denkt. Sollte das Vereinte Königreich aus der EU letztlich austreten, wird wahrscheinlich auch die Umwelt darunter leiden. Kein Politiker hat aber vorher ausdrücklich die Umweltzerstörung unterstützt. Das Gleiche gilt vielleicht für die Rechte der Frauen. Der Brexit ist der britische Trump, der aber – sei es weil es sich um die europäische Version handelt - weder schreit noch ein Sturmgewehr mit sich trägt. Sollte der britische Trump planen, jemanden auf der Fifth Avenue zu erschießen, würde er seinen Plan nicht vorher ankündigen. In Großbritannien protestiert man nicht, bevor der lokale Strand stinkt, oder bevor ein polnischer Kollege tatsächlich ausgewiesen wird. Dann wird es aber schon zu spät sein.
Bezüglich des Brexits hört man von parlamentarischen Änderungen, der Zollunion und einer Volksabstimmung über das Brexit-Abkommen. Der Brexit-Debatte in den Medien zu folgen erfordert fundierte politische Kenntnisse.Währenddessen ist das Beobachten von Trump eine schräge Form der Unterhaltung. Es ist viel einfacher, empört eine Geschichte von Trump zu teilen, der einen behinderten Journalisten verspottet, als eine BBC News-Nachricht über eine von Jacob Rees-Mogg gesponserte Veränderung zum Wechselgesetz. Und dies trotz der Tatsache, dass letztere Nachricht das Leben in Großbritannien direkt beeinflussen könnte. Die Brexit-Debatte ist das ultimative Reality-TV, nur eben für die Politikfreaks.
Sogar Politik kann real sein
Misstrauen gegenüber Politiker*innen wird oft als Auslöser des Erfolgs von Anti-Establishment-Bewegungen in der westlichen Welt angeführt. Zumindest in Westeuropa haben wir uns vielleicht an Regierungen gewöhnt, die unser Leben – solange wir gesund und mittelständisch sind - wahrscheinlich nicht zerstören möchten. Unsere Politiker*innen bewahren eine Fassade der Glaubwürdigkeit, und man erwartet für gewöhnlich noch gute Manieren. Allerdings braucht man nicht immer ein verstörter Rodrigo Duterte zu sein, um die Lebensqualität der normalen Menschen zu reduzieren.
Gleichermaßen war es einfach, gegen den Irakkrieg zu protestieren, da Bilder von Tod und Gewalt mit einem Gefühl ungerechter Täuschung vonseiten des Premierministers verbunden waren. Gegen einen brutalen, ungerechten Krieg und ein wachsendes Grauen muss man zweifellos protestieren. Manchmal kann aber sogar die „normale Politik“ so real sein, dass es sich lohnt, in die Stadt zu marschieren. Einhunderttausend Brit*innen haben am 23. Juni genau so gedacht. Vielleicht wird die Zahl am 20. Oktober sogar noch höher sein.
Der von People’s Vote am 20. Oktober organisierte Marsch für die Zukunft ist die nächste Veranstaltung der britischen Pro-Europäer*innen. Er wird im Zentrum von London stattfinden.
Mit diesem Artikel gibt der Autor eine persönliche Stellungnahme ab.
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