Warum nicht nur einige, sondern alle 73 frei werdenden Sitze im Europäischen Parlament für gesamteuropäische Listen genutzt werden sollten

, von  Manuel Müller

Warum nicht nur einige, sondern alle 73 frei werdenden Sitze im Europäischen Parlament für gesamteuropäische Listen genutzt werden sollten
Viele Vorteile gesamteuropäischer Listen zeigen sich nur, wenn eine bedeutende Anzahl Abgeordneter so gewählt wird. © diamond geezer / Flickr/ Creative Commons 2.0-Lizenz

Mit dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs werden – voraussichtlich noch vor der nächsten Europawahl im Jahr 2019 – im Europäischen Parlament jene 73 Sitze frei, die bislang von britischen Abgeordneten eingenommen wurden. Damit bietet sich eine außergewöhnliche Gelegenheit, die Zusammensetzung und das Wahlsystem des Parlaments zu reformieren. Hierfür kursieren derzeit verschiedene Vorschläge. Der interessanteste von ihnen sieht vor, die 73 Abgeordneten künftig über gesamteuropäische Listen wählen zu lassen, die von den europäischen Parteien aufgestellt würden.

Dieser Artikel ist zuerst auf dem Blog "Der (europäische) Föderalist" unseres Autors Manuel Müller erschienen.

Gesamteuropäische Listen

Warum ich selbst diese Idee für richtig halte, habe ich auf [foederalist.eu] vor einigen Wochen beschrieben. Kurz zusammengefasst: Die gesamteuropäischen Listen würden den europäischen Parteien durch das Recht zur Listenaufstellung größeren politischen Einfluss verleihen, was den Zusammenhalt der Fraktionen im Europäischen Parlament verbessern würde. Außerdem würden die Parteien mehr Sichtbarkeit im Wahlkampf gewinnen, wodurch die Europawahl zu einer echten gesamteuropäischen Richtungsentscheidung werden könnte.

Und schließlich würde für die europäischen Listen europaweit jede Stimme gleich viel zählen, was auch die formale Legitimität des Parlaments erhöhen würde. Im besten Fall ließen sich die gesamteuropäischen Listen für einen europaweiten Verhältnisausgleich nutzen, sodass das Kräfteverhältnis der Parlamentsfraktionen (trotz der degressiven Proportionalität in den nationalen Sitzkontingenten) genau ihrem europaweiten Stimmenverhältnis bei der Europawahl entspräche. Alles in allem könnten die gesamteuropäischen Listen der größte Durchbruch zu mehr europäischer Demokratie seit langem sein.

Korrektur der nationalen Sitzkontingente

Dennoch stößt die Idee sogar im Europäischen Parlament auf einigen Widerstand. Daneben gibt es noch zwei weitere Vorschläge, was sich mit den 73 frei werdenden Sitzen anfangen ließe.

Der erste dieser Alternativvorschläge besteht in einer Korrektur der nationalen Sitzkontingente. Für diese gilt derzeit grundsätzlich das Prinzip der „degressiven Proportionalität“: Größere Staaten haben mehr Sitze als kleinere Staaten, doch kleinere Staaten haben mehr Sitze pro Einwohner. Allerdings wird dieses Prinzip bislang nicht nach einer festen Formel angewandt. Stattdessen wurde die genaue Größe der Sitzkontingente politisch zwischen den nationalen Regierungen ausgehandelt – sodass es darin teilweise zu unlogischen Sprüngen kommt. So haben beispielsweise Litauen (2,9 Mio. Einwohner) und Irland (4,6 Mio.) je 11 Sitze, die Slowakei (5,4 Mio.) aber 13. Schweden (9,7 Mio. Einwohner) kommt auf 20 Sitze, Ungarn (9,8 Mio.) und Belgien (11,3 Mio.) auf je 21.

Eine Formel für die degressive Proportionalität

Schon seit längerem gibt es deshalb Vorschläge zu einer Wahlrechtsreform, die die degressive Proportionalität in eine feste Formel gießen würde. In kleinen Mitgliedstaaten abgegebene Stimmen hätten dann immer noch ein größeres Gewicht als in großen. Aber immerhin gäbe es nachvollziehbare Kriterien, wie sich Unterschiede in der Bevölkerung auf die Zahl der Sitze im Parlament auswirken. Den bekanntesten dieser Formel-Vorschläge, den sogenannten „Cambridge Compromise“, hat Andrew Duff (LibDem/ALDE) vor einiger Zeit auf [foederalist.eu] beschrieben.

Allerdings scheiterte das Bestreben nach einer festen Formel für die degressive Proportionalität bislang daran, dass bei einer Neuverteilung der Kontingente bestimmte Mitgliedstaaten Sitze verloren hätten. Die 73 frei werdenden Sitze bieten nun die Chance, die Formel so einzuführen, dass kein Land etwas abgeben muss, sondern nur die Kontingente der bislang benachteiligten Länder aufgestockt werden.

Ob die feste Formel wirklich ein so wichtiges Ziel ist, darf man indessen getrost bezweifeln. Die Kritik an der fehlenden Wahlgleichheit bei der Europawahl entzündet sich in der Regel schon am Prinzip der degressiven Proportionalität selbst – nicht erst daran, dass dieses inkonsequent umgesetzt wird. Ob Irland, Schweden oder Ungarn nun einen Sitz mehr oder weniger haben, ist für die formale Legitimität des Parlaments insgesamt kaum von Bedeutung, solange europaweit das Problem erhalten bleibt, dass die Stimmen in manchen Ländern deutlich mehr zählen als in anderen.

Verkleinerung des Parlaments

Der zweite Alternativvorschlag für die 73 ehemals britischen Sitze ist noch schlichter: Man könnte sie nach dem Brexit auch einfach unbesetzt lassen. Dieses Ergebnis ist die Rückfalllösung für den Fall, dass keine andere Einigung erzielt wird. Ihre Befürworter sehen darin vor allem zwei Vorteile. Zum einen bedeuten weniger Abgeordnete weniger Kosten; ein kleineres Parlament würde dem Steuerzahler Geld sparen. Und zum anderen würde es auch auf symbolischer Ebene verdeutlichen, dass die EU mit dem britischen Austritt kleiner wird. Niemand, so die Überlegung, soll dem Parlament vorwerfen können, es betreibe nach dem Brexit business as usual.

Bei näherem Hinsehen wirken diese Argumente für eine Verkleinerung des Parlaments nicht besonders überzeugend. Das finanzielle Einsparpotenzial dürfte sich in Grenzen halten, da ein großer Teil der Kosten für die Parlamentsverwaltung ohnehin fix sind (etwa für die Unterhaltung des Plenargebäudes oder für die aufwendige Verdolmetschung der Parlamentsdebatten in alle 24 Amtssprachen). Und die symbolische Ebene dürfte den meisten Europäern ohnehin gleichgültig sein. Um die Legitimität des Parlaments zu steigern, ist die Verkleinerung jedenfalls ein ungleich schwächerer Hebel als die Einführung gesamteuropäischer Listen.

Kompromiss: Gesamteuropäische Listen in ganz kleinem Rahmen?

Dennoch hat die Idee einer Verkleinerung im Parlament einige bedeutende Unterstützer. Beispielsweise sprach sich Jo Leinen (SPD/SPE), Mit-Berichterstatter für den letzten Wahlrechtsentwurf des Parlaments von 2015 und eigentlich ein Befürworter von gesamteuropäischen Listen, zuletzt dafür aus, dass das Parlament nach dem Brexit nicht mehr als 700 Sitze haben sollte. Von den 73 britischen Sitzen würden nach diesem Vorschlag also mindestens 51 eingespart. Für gesamteuropäische Listen blieben gerade einmal 22 Sitze übrig – selbst wenn man auf die Korrektur der nationalen Sitzkontingente nach einer festen Formel völlig verzichten würde.

Kann das die Lösung sein? Immerhin kam der demokratische Fortschritt in der Europäischen Union auch in der Vergangenheit meist in Form von Trippelschritt-Reformen. Gesamteuropäische Listen erst einmal nur in ganz kleinem Rahmen einzuführen, könnte den Einwänden der gemäßigten Skeptiker (die vor allem in der christdemokratischen EVP-Fraktion vertreten sind) entgegenkommen und zugleich doch einen Präzedenzfall schaffen. Auf den ließe sich dann in Zukunft aufbauen, wenn sich das neue System erst einmal in der Praxis bewährt hat. Oder?

Der Unterschied zwischen 22 und 73 gesamteuropäischen Sitzen

Offen gesagt: Ich habe da Zweifel. Denn viele von den demokratischen Vorteilen, die gesamteuropäische Listen bieten, könnten sich deutlich schlechter entfalten, wenn nur 22 Sitze auf diese Weise besetzt werden und nicht alle 73. Um diesen Effekt zu verstehen, lohnt es sich zu vergegenwärtigen, wie viele Abgeordnete jeder europäischen Partei jeweils über die gesamteuropäischen Listen ins Parlament einziehen würden.

Zu diesem Zweck habe ich auf Grundlage der Ergebnisse der Europawahl 2014 berechnet, wie damals die Sitzverteilung zwischen den gesamteuropäischen Listen hätte aussehen können. Bei 73 Sitzen wäre die christdemokratische EVP auf 22 gesamteuropäische Mandate gekommen, die sozialdemokratische S&D auf 20, die liberale ALDE und die linke GUE/NGL jeweils auf 7, die Grünen auf 5, die rechtskonservative EKR, die nationalpopulistische EFDD und die Rechtsaußen-Gruppierung ENF jeweils auf 4. Bei 22 Sitzen hätte die EVP hingegen 7 Sitze erreicht, die S&D 6, Liberale, Linke und Grüne je 2, EKR, EFDD und ENF je einen.

Sichtbarkeit und Einfluss der europäischen Parteien

Vor allem für die kleineren Parteien ist der Unterschied beträchtlich: Wenn Liberale, Grüne oder Linke über die gesamteuropäischen Listen ohnehin nur einen oder zwei Abgeordnete ins Parlament entsenden würden, wäre das kaum eine Veränderung gegenüber dem schon heute existierenden Spitzenkandidaten-Verfahren. Ihre Listenaufstellung bestünde im Wesentlichen in der Auswahl von ein oder zwei Gesichtern, die die Partei europaweit repräsentieren sollen.

Aber auch für die größeren Parteien wären 6-7 aussichtsreiche Plätze auf der gesamteuropäischen Liste sehr wenig. Sie würde damit lediglich ein paar Schwergewichte wie den Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten oder den Fraktionsvorsitzenden versammeln. Alle anderen Kandidaten hätten ohnehin keine Chance, auf diesem Weg ins Parlament einzuziehen, und müssten über nationale Listen abgesichert werden.

Bei insgesamt 73 Sitzen hätten die gesamteuropäischen Listen hingegen ein echtes Gewicht. Mit 20 bis 25 aussichtsreichen Plätzen könnten die großen europäischen Parteien sie nutzen, um nicht nur ihr engstes Spitzenpersonal, sondern auch ihre wichtigsten Köpfe zu einzelnen Themenbereichen zu präsentieren und zudem eine ausgewogene Regionalverteilung sicherzustellen. Sowohl was den politischen Einfluss der europäischen Parteien als auch was ihre Sichtbarkeit im Wahlkampf betrifft, wären 73 gesamteuropäische Sitze also eine deutlich bessere Lösung als 22.

Ein europäischer Verhältnisausgleich ist mit 22 Sitzen unmöglich

Noch deutlicher würde der Unterschied, wenn man die gesamteuropäischen Listen tatsächlich für einen europaweiten Verhältnisausgleich heranziehen wollte. Die folgende Tabelle zeigt, wie viele Stimmen die europäischen Parteien (bzw. die Fraktionen des Europäischen Parlaments) bei der letzten Europawahl jeweils erhalten haben und wie viele Sitze ihnen deshalb bei einem rein proportionalen System zugestanden hätten. Die dritte Zeile zeigt die Sitze, die die Fraktionen jeweils schon über die nationalen Sitzkontingente erreicht haben. Die vierte Zeile gibt an, wie viele Sitze sie deshalb über die gesamteuropäischen Listen erhalten hätten, um einen möglichst weitgehenden Verhältnisausgleich zu erzielen. Die fünfte Zeile zeigt, wie sich das Europäische Parlament in diesem Fall zusammengesetzt hätte.

Wie zu erkennen ist, wäre es mit 73 gesamteuropäischen Sitzen möglich gewesen, die Sitzverteilung zwischen den Fraktionen nah an das gesamteuropäische Stimmenverhältnis heranzuführen. Ein vollständiger Verhältnisausgleich wäre zwar nicht ganz gelungen: Der EKR-Fraktion hätten nach ihrem gesamteuropäischen Stimmenanteil 2014 nur 45 Sitze zugestanden; sie erreichte jedoch schon über die nationalen Kontingente 50 Mandate. Dadurch wären Überhangmandate entstanden, die einen vollständigen Verhältnisausgleich verhindert hätten. Dennoch hätte das Gesamtergebnis sehr nahe an einer idealen, direkt-proportionalen Verteilung gelegen.

Anders sieht es aus, wenn für den Verhältnisausgleich nur 22 Sitze zur Verfügung stehen. Bei einem Parlament mit nur 700 Sitzen hätten 2014 gleich drei Fraktionen (EVP, EKR und ALDE) allein über die nationalen Kontingente bereits mehr Mandate erreicht, als ihnen nach dem gesamteuropäischen Stimmenverhältnis zugestanden hätten. Dadurch wird ein echter europäischer Verhältnisausgleich unmöglich. Selbst bei der bestmöglichen Annäherung würde das Sitzverhältnis zwischen den Fraktionen weiterhin stark von ihrem europaweiten Stimmverhältnis abweichen.

Nicht zu früh mit zu wenig zufriedengeben

Gewiss: Auch 22 gesamteuropäische Sitze wären besser als überhaupt keine. Selbst wenn es sich nur um Miniatur-Listen handeln würde, müssten die europäischen Parteien anfangen, eine gewisse Übung bei der transnationalen Kandidatenauswahl zu entwickeln. Das wiederum könnte neue Kommunikationsprozesse in Gang setzen, die im besten Fall zu einer stärker transnationalen innerparteilichen Meinungsbildung führen.

In vieler anderer Hinsicht aber zeigen sich die vollen Vorteile gesamteuropäischer Listen nur, wenn über sie auch tatsächlich eine bedeutende Anzahl von Abgeordneten gewählt wird. Dann aber überwiegen diese Vorteile den Nutzen anderer möglicher Verwendungen der frei werdenden Sitze bei weitem. Wem die europäische Demokratie am Herzen liegt, der sollte sich deshalb nicht zu früh mit zu wenig zufriedengeben: Alle 73 britischen Sitze im Europäischen Parlament sollten künftig über gesamteuropäische Listen besetzt werden. Eine bessere Gelegenheit wird so schnell nicht kommen.

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