#1 Euroskeptiker*innen waren nicht vertreten
Laut den Organisator*innen waren euroskeptische Parteien zwar eingeladen, Spitzenkandidat*innen schickten sie aber nicht nach Florenz. Bei der Maastricht Debate war für die euroskeptische Seite immerhin ein Vertreter der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) anwesend gewesen. Der Florenz-Debatte schadete das Fehlen euroskeptischer Stimmen nicht: Statt darüber zu diskutieren, ob sie für oder gegen die EU sind, schafften die Kandidat*innen Platz für eine Diskussion darüber, was für eine EU sie fordern.
#2 Gegen den Europäischen Rat
Überraschenderweise gelang es den Kandidat*innen recht schnell, einen gemeinsamen Feind zu finden: den Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs*innen der EU-Mitgliedsländer sitzen. Die Kandidat*innen sprachen sich dafür aus, innerhalb der EU mehr Befugnisse für die Europäische Kommission und das Europäische Parlament – auch zulasten der Befugnisse des Rates – zu schaffen.
Geschlossen sprachen sie sich auch für ein Initiativrecht des Europäischen Parlaments aus, das es letzterem ermögliche, selbst Gesetzesentwürfe vorzuschlagen. Weber versprach sogar, dass er dabei nicht auf das Abändern der Verträge warten würde, sondern als Kommissionspräsident schlichtweg alle Vorschläge des Parlaments annehmen würde. Verhofstadt verlangte außerdem, dass das Parlament mehr Entscheidungsgewalt bezüglich des Haushalts bekommen solle: Aktuell wird der von den Mitgliedsstaaten beschlossen. Das Parlament kontrolliert dabei, wofür das Geld ausgegeben wird. Über die Einnahmen entscheidet es jedoch nicht.
#3 Spitzenkandidat*innen-Prinzip zur Debatte
Als Vertreter der ALDE-Fraktion betonte Verhofstadt erneut, dass seine Fraktion bewusst keine*n einzige*n Spitzenkandidat*in, sondern ein Team aus mehreren Kandidat*innen aufgestellt hatte, um Kritik an dem Mechanismus zu üben. Er argumentierte, dass Wähler*innen in vielen Ländern gar nicht die Chance haben, die jeweiligen Spitzenkandidat*innen zu wählen, da die EU sich gegen transnationale Listen entschieden hatte. Das Mitspielen der Liberalen beim Spitzenkandidat*innen-Prinzip gegen transnationale Listen – so könnte in der Zukunft Verhofstadts Angebot aussehen.
Scharfe Kritik erntete er dafür von Weber und Timmermans. Letzterer sprach sich sogar für eine Automatisierung und rechtliche Bindung des Mechanismus aus. Dem Europäischen Parlament die Entscheidungsgewalt über die Kommissionspräsidentschaft wieder zu nehmen, sei nicht vertretbar. In sozialen Netzwerken wurden daraufhin Stimmen laut, die darauf verwiesen, dass vor allem die größeren Fraktionen, also jene, denen auch Weber und Timmermans angehören, vom Spitzenkandidat*innen-Prinzip profitieren.
#4 ALDE löst sich auf
Außerdem sorgte Verhofstadt für eine Überraschung: Die ALDE-Fraktion möchte sich nach den Europawahlen auflösen. Dann möchten die angehörigen Politiker*innen gemeinsam mit der En-Marche-Bewegung des französischen Präsidenten Emmanuel Macrons eine neue liberale Fraktion im Zentrum des Europäischen Parlaments gründen.
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Aktuell ist ALDE mit 69 Sitzen die viertstärkste Kraft im Parlament: Vor ihr liegen die EVP, die Sozialdemokrat*innen und die EKR. Ein Bündnis mit Macron könnte der anschließend neu geformten Fraktion dabei helfen, die EKR als drittstärkste Kraft zu ersetzen. |
#5 Wirtschaft: Sparen und Investieren
Weber, dessen EVP die Sparpolitik innerhalb der EU maßgeblich vorangetrieben hatte, sprach sich dafür aus, diese zu lockern. Scharfe Kritik für eben jene Sparpolitik insbesondere bezüglich Griechenlands hatte er zuvor von Keller geerntet: Sie forderte stattdessen Investitionen. Webers Entgegenkommen wertete sie als scheinheilig und warf ihm vor, das Abschwächen der Sparpolitik nur anzubieten, um seine Aussichten auf die Kommissionspräsidentschaft nicht zu gefährden.
Timmermans fand hingegen besorgniserregender, dass die gesellschaftliche Mittelschicht und der wirtschaftliche Mittelstand in ganz Europa mehr Unterstützung bräuchten. Er sprach sich für eine Entlastung der Mittelschicht aus. Einen gemeinsamen Nenner fanden die Kandidat*innen in einem ähnlichen Punkt: bei verstärkter Regulierung und höheren Steuern für Technologieunternehmen. Weber sprach sich außerdem für einen „digital transition fund“ aus, aus dem Maßnahmen finanziert werden sollen, die Arbeitnehmer*innen angesichts fortschreitender Automatisierung unterstützen.
#6 Sicherheit: Europäische Armee
Gespalten hat die Kandidat*innen hingegen die Frage, ob die EU eine gemeinsame Armee bekommen soll. Aktuell unterhält jedes Mitglied sein eigenes Militär, Deutschland beispielsweise die Bundeswehr. Das bezeichnete Verhofstadt als „rausgeschmissenes Geld“ und forderte stattdessen die Gründung einer Europäischen Armee. Weber stellte sich dabei auf Verhofstadts Seite. Die beiden Politiker forderten auch das Bilden einer europäischen, dem US-amerikanischen FBI ähnlichen Sicherheitsbehörde.
Keller und Timmermans zeigten sich hingegen kritisch: Keller sprach sich zwar grundsätzlich für eine vertiefte europäische Integration aus, wollte dabei militärische Aspekte aber nicht im Vordergrund sehen. Timmermans sah eine gemeinsame Armee als Utopie, die sich in nächster Zeit nicht erfüllen würde. |
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Er warnte seine Mitkandidaten davor, Versprechen zu machen, die sie nicht halten könnten, gerade da die Mitgliedsstaaten sich in ihrer Außenpolitik selten einig seien. Angesichts der Zustimmung der deutschen Regierung kritisierte er außerdem, dass Länder wie Deutschland dort anpacken müssten, wo Europa es gerade am meisten bräuchte – und das sei aktuell eben nicht die Sicherheitspolitik.
#7 Außenpolitik: Schwerpunkt Afrika
Der afrikanische Kontinent fiel mehrfach in den Reden der Kandidat*innen: So sprach sich Weber schon in seinem Eingangsstatement für einen „Kommissar für Afrika“, also einem Mitglied der Europäischen Kommission, das sich ganz den Beziehungen zwischen der EU und afrikanischen Ländern widmen könne, aus. Auch Timmermans sprach von verstärkten Anstrengungen der EU für den afrikanischen Kontinent. Keller verwies dabei auf Menschenrechte und europäische Werte als wichtigste Orientierungspunkte für das Gestalten der Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten. Sie sprach auch davon, dass „wir Europäer*innen besser mit unseren kolonialen Schulden umgehen“ müssten. Einen konkreten Plan legte Verhofstadt vor: Er forderte eine Freihandelszone zwischen der Europäischen Union und der Afrikanischen Union.
#8 Konflikte zwischen Weber und Timmermans
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Gerade da ALDE-Politikerin Margrethe Vestager zuvor zunehmend als einzig ernstzunehmende Konkurrenz für Weber gehandelt wurde, hatte man wenig von Timmermans gehört. Im Amt des Kommissionspräsidenten wirkte er bereits nahezu undenkbar. |
In Florenz zeigten Weber und Timmermans jedoch, dass sie den Wahlkampf noch nicht aufgegeben hatten. Timmermans attackierte Weber mehrmals scharf, unter anderem mit Vorwürfen bezüglich der Nähe des Christdemokraten zu seinem ungarischen Kollegen Viktor Orbán. Weber auf der anderen Seite warf Timmermans in seiner Rolle als Vizepräsident der aktuellen Kommission vor, nicht ausreichend hart mit der rumänischen Regierungspartei im Streit um den Abbau rumänischer Anti-Korruptions-Gesetze umgegangen zu sein.
#9 Abschlussstatements
Eigene Schwerpunkte unabhängig von vorgefertigten Fragestellungen konnten die Kandidat*innen in ihren Abschlussstatements setzen: Weber sprach davon, die EU näher an die EU-Bürger*innen zu bringen, Timmermans von einem Kampf ums Überleben der EU und vom Ablehnen einer Gesellschaft, die auf Konfrontation, Hass und Ausschließen basiere. |
Keller erinnerte daran, an die Zukunft des Planeten und der jungen Generation zu denken, während Verhofstadt verlangte, dass nur ein vereintes Europa in der Weltpolitik und -wirtschaft mit Ländern wie China, Indien und den USA mithalten könne. Nach einem 100-minütigen Duell aus Konfrontationen und doch einigen gemeinsamen Nennern mag das alles sein, was Wähler*innen brauchen, um eine Entscheidung zu treffen.
#10 Schwache Resonanz
Die großen Fernsehsender waren nicht vor Ort, um die Debatte zu übertragen, und unter dem Hashtag #FlorenceDebate fand man auf Twitter vor allem Tweets der Parteien selbst: Die Resonanz fiel schwach aus. Was wir nicht zuletzt aus dem Spitzenkandidat*innen-Duell mitnehmen: An Entscheidungsgewalt, strittigen Themen und diskussionsfähigen Kandidat*innen mangelt es der EU nicht. An einer erfolgreichen Kommunikationsstrategie und Nähe zu EU-Bürger*innen anscheinend schon.
Veranstaltungstipp: Eine weitere Diskussionsrunde organisieren die Jungen Europäischen Föderalisten am 14. Mai – nicht mit Spitzenkandidat*innen, sondern mit jungen Spitzenpolitiker*innen. Wer wissen möchte, welche Visionen sie für die Zukunft Europas und die europäische Politik im nächsten Europäischen Parlament haben, kann ab 19:00 in Berlin vor Ort dabei sein oder die Debatte per Livestream verfolgen. Mehr Infos: Facebook & Webseite.
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