Existenzielle Rechte und Pflichten
Unsere menschliche Existenz hängt ganz wesentlich von äußeren Faktoren ab. Ohne jene schöpferischen Kräfte, welche das Universum, unser Sonnensystem und nicht zuletzt die Lebensbedingungen auf der Erde geschaffen haben, ist eine menschliche Existenz schlicht undenkbar. Ins Leben treten wir, weil wir Eltern haben, die uns zeugen. Menschen sind Personen, weil sie soziale Beziehungen eingehen und auf die kulturellen Errungenschaften vergangener und gegenwärtiger Generationen zugreifen können. Sie bewegen sich in einem soziokulturellen Raum, der sie prägt und ihrem Handeln Sinn verleiht.
Insofern Menschen ihre physische und kulturelle Existenz äußeren Faktoren verdanken, sind sie verpflichtet, sich für die Natur, die Menschheit und die sie umgebende Gesellschaft einzusetzen. Oder anders ausgedrückt: das soziokulturelle Umfeld eines Menschen gewinnt Anspruch auf ihn, da es seine physische und kulturelle Lebensgrundlage bildet. Zugleich beeinflussen Menschen im Laufe ihres Lebens ihre natürliche, soziale und kulturelle Umwelt. Insofern sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung der natürlichen und kulturellen Lebensgrundlagen beitragen, erwerben sie Rechte gegenüber der Gesellschaft. Das umfasst insbesondere das Recht auf persönliche Selbstbestimmung in den Grenzen gesellschaftlicher Pflichten.
Wir Menschen stecken nun allerdings in einem Dilemma. Zum einen gibt es keine natürliche Autorität, die unsere Rechte und Pflichten bestimmen könnte. Zum anderen ist unklar, auf welche Personengruppe sich gewisse Rechte und Pflichten beziehen.
Die Grenzen des Nationalstaats
Da es keine natürliche Autorität gibt, welche die Rechte und Pflichten der Menschen festsetzt, sind wir Menschen frei, diese Rechte und Pflichten eigenständig zu bemessen. Deshalb kann jeder Mensch Anspruch darauf erheben, an der Aushandlung dieser Rechte und Pflichten mitzuwirken. Gesellschaftliche Autorität gründet mithin in der gleichmäßigen Einbeziehung aller betroffenen Personen und der Berücksichtigung möglichst vieler unterschiedlicher Positionen. Dies ist Grundlage einer legitimen gesellschaftlichen Machtausübung, weil es die Akzeptanz der Betroffenen gewährleistet und die Eigenständigkeit ihrer Person respektiert. So weit, so bekannt. Schwieriger ist da schon die Frage, wann jemand von einer konkreten Entscheidung betroffen ist und in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden sollte. Traditionell bedienen sich Menschen bei der Abgrenzung politischer Entscheidungsräume eines Kunstgriffes; sie konstruieren Gesellschaften. Eine Gesellschaft verfügt über mehr oder minder willkürliche kulturelle, ethnische, geographische und politische Grenzen. Ein naheliegendes Beispiel ist der moderne Nationalstaat mit seinen Regionen, Städten und Gemeinden. Durch die Konstruktion von Gesellschaften wird die Welt in modulare Entscheidungseinheiten unterteilt. Das ist ausgesprochen praktisch, führt aber nicht unbedingt zu einer sinnvollen Verteilung von gesellschaftlicher Autorität.
Die räumlichen Grenzen von Sachfragen und gesellschaftlichen Entscheidungsmechanismen sind nicht notwendigerweise deckungsgleich. Stattdessen betreffen Sachfragen oft nur einen Teil der Gesellschaft. Möglicherweise wirken sie sich aber auch auf andere Gesellschaften aus. Man denke etwa an ein Binnenmeer mit mehreren Anrainerstaaten oder ein störanfälliges Atomkraftwerk im grenznahen Bereich. Alle Bewohner des Einzugsgebietes sind potenziell entscheidungsbetroffen, zum Beispiel in Fragen der wirtschaftlichen Nutzung der Fischgründe. Um allen Entscheidungsbetroffenen ein politisches Mitspracherecht zu gewähren, bedarf es übergeordneter Entscheidungsstrukturen.
Föderalismus als Richtschnur einer legitimen Weltordnung
Der Föderalismus dient als Richtschnur, um Sachfragen geeigneten Entscheidungsebenen (lokal, regional, über-regional) zuzuordnen. Dabei gebietet das sogenannte Subsidiaritätsprinzip, Entscheidungen nahe an den betroffenen Menschen zu fällen und diese adäquat in die Entscheidungsfindung miteinzubeziehen. Übergeordnete Entscheidungsträger sollten nur dann ermächtigt werden, wenn dies Voraussetzung für eine wirksame und legitime Regulierung des jeweiligen Sachverhalts ist. Im Grunde bedeutet eine föderale Ordnung also einen möglichst hohen Grad an individueller und kollektiver Selbstbestimmung mit einem möglichst hohen Grad an Effektivität zu vereinen. Wesentliche Instrumente einer funktionierenden föderalen Ordnung sind dabei sowohl Verfassungen mit klaren Kompetenzkatalogen als auch vertikal und horizontal verschränkte Gewalten. Was aber lässt sich aus diesen abstrakten Prinzipien für das Fernziel einer Weltföderation gewinnen?
Durch die zunehmende globale Verflechtung der Menschheit entwickeln sich in vielen Politikfeldern globale Dimensionen. Denken wir nur an die Überfischung der Weltmeere, die sozialen und ökologischen Folgen des Welthandels oder den fortschreitenden Klimawandel. All das hat Auswirkungen auf die Lebensgrundlage von Menschen in allen Ecken der Welt.
Menschen müssen auch nicht unmittelbar betroffen sein. Es ist ausreichend, wenn sie annehmen müssen, potentiell betroffen zu sein. Ein plastisches Beispiel sind Massenvernichtungswaffen, und insbesondere Atomwaffen. Sie bergen das Potential, die gesamte Menschheit auszulöschen. Schon deshalb hat jeder Mensch das Recht, an der globalen Regulierung dieser Waffen mitzuwirken.
Kurz gesagt, es bedarf einer Weltföderation, um allen Erdenbürgern ein effektives Mitspracherecht bei der Regulierung von Sachfragen einzuräumen, die enorme Auswirkungen auf ihre natürlichen oder sozialen Lebensgrundlagen haben. Dies bedingt durchsetzungsfähige globale Institutionen und ein Weltgrundgesetz mit einem detaillierten Kompetenzkatalog. Nur der föderale Weltstaat auf Basis einer freiheitlich demokratischen Grundordnung entspricht den Anforderungen einer legitimen Weltordnung.
Freilich, auf der Prioritätenliste der europäischen Regierungschefs und der Bürgerinnen Europas rangiert die Weltföderation gegenwärtig ziemlich weit hinten. Aber als Föderalistinnen begreifen wir uns gerne als die Avantgarde und Botschafter einer progressiven Gesellschaftsordnung. Gerade wir dürfen deshalb die Welt nicht aus den Augen verlieren. Im Gegenteil. Es ist das Gebot der Stunde mit positiven Gesellschaftsentwürfen in die öffentliche Debatte einzugreifen.
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