Gedankenspiel zur EU

Wenn die Bundesrepublik Deutschland wie die EU verfasst wäre

, von  Stephen Wißing

Wenn die Bundesrepublik Deutschland wie die EU verfasst wäre
Der Plenarsaal des EU-Parlaments in Straßburg. Sollen die Parlamentarier mehr Macht bekommen? Flickr / Tim Reckmann / Creative Commons License

Wie sähe die Bundesrepublik Deutschland eigentlich aus, wenn sie wie die heutige Europäische Union verfasst wäre? Spielt man dieses Gedankenexperiment einmal durch, wird offensichtlich, dass die europäische Integration hin zu einer Europäischen Föderation vertieft werden muss. Ein Grund zur Hoffnung: Schritte zur Reform der EU-Verträge werden in diesen Wochen von EU-Parlamentarier*innen vorangebracht. Ein Kommentar von Stephen Wißing.

Am 19. September 1946 sprach Winston Churchill in Zürich vor der akademischen Jugend zur Zukunft Europas. Es wurde eine seiner berühmtesten Reden. Darin forderte er, „eine Art Vereinigte Staaten von Europa“ zu errichten. Seine auffordernden Schlussworte: „Let Europe arise!“ Trotz vieler Schritte, die seitdem in der europäischen Integration geschehen sind, ist die heutige Europäische Union keineswegs voll demokratisiert oder wie andere vereinigte Staaten (wie bspw. die Vereinigten Staaten von Amerika) organisiert. Die EU ist ein Staatenverbund mit derzeit 27 Mitgliedsstaaten. Auch die Bundesrepublik Deutschland ist ein Verbund von Staaten (der englische Begriff macht dies deutlicher: Federal Republic of Germany), den 16 Bundesländern. Zwischen den beiden Formen gibt es aber gravierende Unterschiede.

Gedankenexperiment „Bundesdeutsche Union“

Stellen wir uns im Folgenden einmal vor, die heutige Bundesrepublik Deutschland wäre in etwa so verfasst, wie es die Europäische Union heute ist. Wenn wir dieses – zugegebenermaßen etwas zugespitzte und vereinfachende – Experiment einmal durchdenken, lassen sich einige demokratische Schwachstellen der aktuellen europäischen Institutionen aufzeigen. Eine fortschreitende Demokratisierung der EU könnte diese Aspekte beheben.

Die Parteien

In einer Bundesrepublik – oder sagen wir besser: Bundesdeutschen Union –, die wie die heutige EU verfasst wäre, gibt es keine deutschlandweiten Parteien. Möglicherweise gibt es hingegen z.B. die CSU in Bayern, in NRW würde die CDU und in Baden-Württemberg so etwas wie eine BWCD (Baden-Württembergische Christdemokraten) antreten. Für die SPD und alle weiteren Parteien gilt das natürlich ebenso: eine SP (Sozialistische Partei) in Bremen, die SPD in Thüringen und die SD (Sozialdemokraten) in Mecklenburg-Vorpommern. Im Parlament würden sich diese unterschiedlichen Parteien zwar zu Fraktionen zusammenschließen, blieben aber eine plurale Versammlung verschiedener Parteien mit teilweise sehr verschiedenen Überzeugungen und Inhalten.

Der Bundestag

Es gibt zwar alle vier Jahre eine Bundestagswahl, in der man eine dieser Parteien wählen kann (je nachdem, in welchem Bundesland man seinen Wohnsitz hat), dieser Bundestag hätte jedoch kein eigenes Initiativrecht, um Gesetze vorzuschlagen. Er könnte lediglich mit den Bundesländern und deren Regierungschefs, die (neben der Kommission) die Leitlinien der Politik bestimmen, in Verhandlungen treten. Hier kann er sein Gewicht geltend machen und Veränderungen an Gesetzesvorhaben verhandeln. Denn auch wenn das Parlament kein eigenes Intitiativrecht hat: Ohne das Parlament geht nichts. Zur Wahrheit gehört, dass das Gesetzgebungsverfahren auch heute in Deutschland relativ ähnlich abläuft. Häufig ist es die Regierung, die Gesetze ins Parlament einbringt, die dann von den Regierungsparteien beschlossen werden. Nichtsdestotrotz gehört es zur demokratischen DNA, dass ein Parlament das Recht hat, unabhängig eigene Gesetze einzubringen.

Die Bundesländer

Die Hauptlinien der bundesdeutschen Politik würden also die 16 Ministerpräsident*innen alle paar Monate auf einem Gipfel in Berlin festlegen – nennen wir ihn „Deutscher Rat“ (in der heutigen EU heißt dieses Gremium „Europäischer Rat“). Die Regierungschefs müssten sich dabei je nach Parteienverteilung in mühsamen und nächtelangen Verhandlungen auf viele Kompromisse einigen, da es Regierungschefs von sämtlichen Parteien gibt: von der „BWCD“, den „Niedersächsischen Linken“, einer „Berlin.Grün“-Partei oder der „Sozialistischen Partei“. Im Nacken haben sie dabei stets ihre eigene Wählerschaft und ihre Wiederwahl im jeweiligen Bundesland. Es gibt in dieser Bundesdeutschen Union also vor allem eine mächtige Kammer und das sind die Regierungschefs der Einzelstaaten. Zusammen mit dem Rat der Bundesdeutschen Union (heute: Rat der EU), in dem sich die jeweiligen Fachminister*innen der Einzelstaaten treffen, bildet diese Kammer ein sehr mächtiges Gremium. Eine Kammer mit bundesweiter Perspektive gibt es zwar (Bundestag), sie hat aber bei Weitem nicht so viele Rechte und Macht wie die Einzelstaatsebene. Obwohl nichts ohne Zustimmung der Einzelstaaten läuft, laden diese bei unbeliebten Entscheidungen dennoch gerne die Verantwortung bei den „Technokraten“ in „Berlin“ ab, wo die Bundesdeutsche Kommission ihren Sitz hat.

Die Bundeskanzlerin und die Regierung

Wo wäre eigentlich die Bundeskanzlerin in dieser Union? Eine Kanzlerin, wie wir sie als Regierungschef heute kennen, gibt es nicht. Es besteht lediglich das Amt einer Bundeskommissionpräsidentin, die die Bundesdeutsche Union verwaltet, darauf achtet, dass festgelegte Regeln und Verträge eingehalten werden, aber auch eigene Projekte vorantreibt. Vom Bundestag wird sie nicht gewählt, sondern von den 16 Länderchefs nach den Bundestagswahlen in zähen Verhandlungen aus dem Hut gezaubert. Wer würde es werden, wenn bspw. nächstes Jahr so ein Verfahren anstände? Sigmar Gabriel? Norbert Lammert? Oder vielleicht doch Kathrin Göring Eckart oder Annegret Kramp-Karrenbauer (kennt die noch jemand?)? Je nachdem wie die jeweilige Präsidentin die Rolle jedoch ausfüllt, kann sie politische Projekte anregen und forcieren. Im Gegensatz zum Parlament kann die Kommission Gesetzgebungsverfahren initiieren. Damit kann sie ein unionsweit einflussreicher Player sein, der die anderen Entscheidungsträger (Parlament, aber v.a. auch die Einzelstaatsebene) unter Handlungsdruck setzt, um die Union voranzubringen.

Was sonst noch denkbar wäre

Denkbar wäre zudem noch eine gemeinsame Währung. Möglicherweise würden von den 16 Staaten z.B. nur elf bei einer Währungsunion mitmachen. Und ein Staatsoberhaupt wie den Bundespräsidenten gibt es natürlich gar nicht; die Bundesdeutsche Union ist ja schließlich kein Staat. Man könnte sicherlich noch viele weitere Beispiele nennen, aber belassen wir es erstmal dabei.

Europäische Republik – jetzt (oder wenigstens 2027)!

Meines Erachtens wirkt dieses Szenario mit Blick auf die Bundesrepublik absurd, schauen wir jedoch auf die Europäische Union, akzeptieren wir diese Form der Verfasstheit. Wäre es vor dieser Vergleichsfolie nun aber nicht sinnvoll, die EU demokratisch zu „vervollständigen“ – gerade auch angesichts der aktuellen globalen Herausforderungen? Dazu gehörten – wie z.B. in der Bundesrepublik Deutschland oder den anderen europäischen Staaten – ein vollwertiges Parlament, wie es in jeder Demokratie selbstverständlich ist sowie eine europäische Regierung, die aus den Mehrheitsverhältnissen des Parlaments hervorgeht und diesem rechenschaftspflichtig ist. Der Europäische Rat wie wir ihn heute kennen, also das Gremium der Regierungschefs der Einzelstaaten, könnte als zweite Kammer beibehalten oder angepasst werden (in Deutschland heute: der Bundesrat). So nimmt man dem oft vorgebrachten Schreckgespenst des zentralistischen „Brüssel-Europas“ sofort den Wind aus den Segeln, da es eine Balance zwischen der gesamteuropäischen und der föderal-einzelstaatlichen Ebene gäbe. Eine solche Vision erscheint derzeit jedoch fast schon zu utopisch um wahr zu werden. Oder? Ja und nein.

Einerseits scheint eine wirkliche Föderalisierung und Demokratisierung der EU angesichts einer erstarkenden Rechten gerade sehr weit weg. Andererseits werden in diesen Wochen kleine, kaum zur Kenntnis genommene, aber vielleicht entscheidende Schritte gegangen. Im Anschluss an die „Konferenz zur Zukunft Europas“ (2021-2022), an der laut EU-Kommission über 700.000 Bürgerinnen und Bürger teilnahmen, haben mehrere Parlamentarier*innen dem „Ausschuss für konstitutionelle Fragen“ des Europäischen Parlaments ein 120-seitiges Dokument mit Vorschlägen zur EU-Reform unterbreitet. Dieser Antrag wird aller Voraussicht nach im November im Parlament diskutiert. Laut Luca Lionello (Assistant Professor für Europarecht in Mailand) sei dies der fortschrittlichste Vorschlag zu Vertragsänderungen seit dem Spinelli-Projekt von 1984 (dieses führte – grob gesagt – zur EU, wie wir sie heute kennen). Die Vorschläge sehen eine deutliche Stärkung des Parlaments und der Kommission vor, bei gleichzeitiger Schwächung des derzeitigen Übergewichts des Europäischen Rates (also der Mitgliedsstaaten). Die Kommission wird zu einer europäischen „Exekutive“. Das Parlament schlägt – je nach den Wahlergebnissen – den Präsidenten oder die Präsidentin der Exekutive vor und der Europäische Rat muss zustimmen (heute ist es genau umgekehrt).

Ein Europa der Bürger

Die vorgeschlagenen Reformen wären ein gewaltiger Schritt in Richtung Föderalisierung und Demokratisierung der Europäischen Union. Wird diese Reform Realität, würde die EU ein großes Stück an die Bürger*innen Europas rücken. Eine Forderung, die viele durch die Konferenz zur Zukunft Europas selbst ins Spiel gebracht haben! Doch würden tatsächlich alle 27 Mitgliedsstaaten diese Schritte wagen? Das ist zumindest fraglich. Ein Kompromissvorschlag: Zum 70. Jahrestag der Römischen Verträge 2027 könnten doch (mindestens) die sechs Gründungstaaten der heutigen EU und ihre Bürger*innen – wie damals – mutig voranschreiten und sich für tiefere Integrationsschritte entschließen (natürlich offen für weitere Mitglieder). So würde die Europäische Union wie wir sie heute kennen zunächst bestehen bleiben, was z.B. den historischen Erfahrungen vieler osteuropäischer Staaten vielleicht vorerst entgegenkäme. Gleichzeitig würde diese EU durch das neue Mitglied „Europäische Republik“ bzw. „Vereinigte Staaten von Europa“ auf 22 Mitglieder schrumpfen. Klingt doch eigentlich gar nicht so utopisch, oder? Die Zeit läuft also, mehr und mehr europäische Bürgerinnen und Bürger für eine neue Etappe der europäischen Integration zu gewinnen. Let Europe arise!

Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Artikel teilweise das generische Femininum verwendet. Die in dieser Arbeit verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.

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