Zeit für die EU, das Einstimmigkeitsprinzip bei Vertragsänderungen zu streichen

, von  Juuso Järviniemi, übersetzt von Alina te Vrugt

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Zeit für die EU, das Einstimmigkeitsprinzip bei Vertragsänderungen zu streichen
Der Sitzungssaal des Europäischen Rates in Brüssel. Fotoquelle: Tauno Tõhk (EU2017EE) / flickr / CC BY 2.0

„Aber das würde eine Vertragsänderung erfordern.“ Oft wird ein guter Ansatz, der die EU flexibler machen würde, verworfen, weil die Verträge der EU nur bei Einstimmigkeit abgeändert werden können. Allerdings scheint Einstimmigkeit gerade im Moment bei allen wichtigen Fragen unmöglich. Dennoch werden wir die Verträge früher oder später überarbeiten müssen.

Wenn wir endlich so weit sind, sollten wir es auch gleich den zukünftigen Generationen einfacher machen: Wir sollten erwirken, dass die EU-Verträge durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten verändert werden können.

Im Jahr 2002 stellte der finnische Politikwissenschaftler Tapio Raunio in seinem Buch „Liittovaltiot“ („Föderationen“) fest, dass kein Staatenbund der Welt ein Einstimmigkeitserfordernis für eine Änderung der föderalen Konstitution stellt. Einstimmigkeit wäre eine zu strikte Anforderung und würde das System lähmen. In den USA müssen beispielsweise mindestens drei Viertel der Staaten Änderungen der Verfassung akzeptieren. Es ist unvorstellbar, Einigkeit über Veränderungen, wie die Abänderung des „Second Amendment“ der Waffenrechte (angenommen im Jahr 1791), zu erzielen.

In einer Welt, die sich schnell verändert, sollte die EU ein System sein, das sich ebenso rasch entwickelt. Wie können wir darauf vertrauen, dass die EU dieser Anforderung gerecht wird, wenn sogar eine Dreiviertelmehrheit ein notorisch starres System zur Folge hat?

Mit dem Höllenhund steckengeblieben?

In Angelegenheiten wie der Außenpolitik und der wirtschaftlichen Steuerung der EU werden ständig neue Systeme und Institutionen vorgeschlagen. Angesicht der Flut an Ideen können wir wohl kaum sagen, dass das europäische Projekt seine Endstation erreicht hat. Irgendwann werden wir auf die Entwurfszeichnung zurückkommen müssen.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Der aktuelle Vertrag von Lissabon drückt sich äußerst unklar aus, wer tatsächlich über die Außenpolitik der EU entscheidet. Auf der einen Seite soll der*die Hohe Vertreter*in – ein Amt, das derzeit Federica Mogherini innehat – „die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik leiten.“ Auf der anderen Seite soll der*die Präsident*in des Europäischen Rates – ein Amt, das derzeit Donald Tusk innehat – „auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft, unbeschadet der Befugnisse des Hohen Vertreters (der Hohen Vertreterin), die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wahrnehmen.“ Um die Angelegenheit noch komplizierter zu gestalten, ziehen die Premierminister*innen der verschiedenen Länder gelegentlich an unterschiedlichen Strängen. Daher ist es schwierig zu sagen, wer das letzte Wort hat. Wir haben besseres verdient, als dieses Höllenhund-System. Das bedeutet, die Verträge müssen überarbeitet werden.

Die EU wird weiterhin wachsen. Wenn beispielsweise Länder des westlichen Balkans beitreten, wird die EU aus mehr als 30 Mitgliedsstaaten bestehen. Mit den vorangegangenen Erweiterungen der EU wurde das Erfordernis der Einstimmigkeit im politischen Alltag schon gelockert, weil es sonst kaum möglich wäre, sich auf irgendetwas zu einigen. Mit der Erweiterung der EU muss auch die Flexibilität der EU weiter vorangetrieben werden. Wenn nicht, könnten wir für immer mit dem Höllenhund steckenbleiben.

Mehr Absicherung? Warum nicht die Leute zu Wort kommen lassen!

Obwohl Flexibilität wichtig ist, könnte man immer noch ein Gegengewicht fordern. Es wäre eine gute Absicht, die Entscheidungsfindung näher an die Menschen heranzutragen. Warum also nicht den überarbeiteten Vertrag einem europaweiten Referendum unterwerfen? Das Werk von Tapio Raunio zeigt auf, dass die Praktiken für Änderungen der Verfassungen auf der ganzen Welt unterschiedlich sind. Eine doppelte Mehrheit der Bürgerschaft und der Mitgliedstaaten könnte den nächsten Schritt für das europäische Modell darstellen.

Bislang waren Änderungen der EU-Verträge eine unflexible, zwischenstaatliche Angelegenheit. Das muss sich ändern. Indem wir eine qualifizierte Mehrheit entscheiden lassen und eine Volksabstimmung als Absicherung einführen, können wir dazu beitragen, dass die EU in der Lage bleibt, sich selbst zu kalibrieren, wenn es nötig ist.

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  • Am 12. Juni 2020 um 11:25, von  Thorsten Linke Als Antwort Zeit für die EU, das Einstimmigkeitsprinzip bei Vertragsänderungen zu streichen

    PRO CONSENSUM IN CONSILIIS

    Einstimmigkeit gibt es nur, wenn sich alle einig sind. Wir in Europa wollen einig sein. Der Verzicht auf die Einstimmungkeit bei Entscheidungen führt aber nur zum Zwang, zu einer Diktatur der Mehrheit. Das ist keine gute Grundlage und die Folgen sehen wir im Brexit und im Unmut vieler Mitglieder.

    Wenn Mitglieder nicht durch andere beherrscht werden sollen, sondern gleichberechtigte Partner sind, dann muß bei Uneinigkeit der vernünftige Dialog weitergeführt werden. Dies ermöglicht vielleicht auch neue Perspektiven und vorab nicht bedachte Lösungen.

    Natürlich sagen manche, dass es einfacher oder flexibler wäre, einfach die Mehrheit herrschen zu lassen. Aber diese vermeintliche „Einfachheit“ verdeckt nur bestehende Konflikte und schürt sie.

    Nicht zuletzt sehen wir am Beispiel des Brexit-Referendums, zu welchem Unfug erzwungene Entscheidungen führen. Ein Referendum zwischen vorgegebenen Wegen verdeckt immer den Blick auf neue Wege. Sie sind eine dünne Ausrede und schlechter politischer Stil.

    Einstimmigkeit und Subsidiaritätsprinzip müssen Bestand haben. Wir in Europa müssen lernen, mit den Unterschieden zu leben und sie auszuhalten. Europa muss ein Europa des Dialogs bleiben.

    Ein gelungener Dialog setzt natürlich voraus, dass sich dieser nicht nur in festgefahrenen Positionen und langen Monologen erschöpft. Ein echter Dialog setzt voraus, dass er argumentativ erfolgt, und die Möglichkeit besteht, dass jede Seite bereit ist, sich Argumenten zu beugen und neue Positionen zu beziehen. Es gehört aber auch dazu, dass manchmal nur festgestellt wird, dass man sich uneinig ist. Einigkeit darf nicht erzwungen werden, denn dies wäre keine wirkliche Einigkeit. Vielleicht kann man sich in solchen Fällen immer noch auf einen gemeinsamen formalen Rahmen einigen, der dann inhaltlich regionaler ausgestaltet werden kann. Vielleicht führt dies ja später zu einer Einigung, wenn man sieht, welche Wege in der Praxis besser funktionieren.

    Ungeduld führt zu nichts. Es gibt kein Ende der Geschichte. Wir streben die Einigkeit an und müssen mit abweichenden Positionen respektvoll umgehen. Eine vermeintliche „Einigkeit“ zu erzwingen, kann nur zu einer Katastrophe führen.

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