Zwischen Verhältniswahlrecht und Überhangmandaten: Durchblick bei der Bundestagswahl?

, von  Frank Heber

Zwischen Verhältniswahlrecht und Überhangmandaten: Durchblick bei der Bundestagswahl?
Am Sonntag, den 26.09.2021, wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. Foto: pixabay / Dr. Horst-Dieter Donat / Lizenz

Wie funktioniert eigentlich nochmal die Bundestagswahl? Und warum habe ich zwei Stimmen? Und kann ich die Wahl des Bundeskanzlers irgendwie beeinflussen? Diese Fragen kehren wohl mindestens alle vier Jahre zurück. Mit diesem Beitrag werden garantiert alle Wissenslücken geschlossen, damit auch wirklich jeder und jede bis zum 26. September weiß was zu tun ist und es nicht wieder heißt: “Bei den 18- bis 25-jährigen lag die Wahlbeteiligung erneut am Niedrigsten”. Let’s rock it this time!

Zweitstimme ist Kanzler*innenstimme

Das Wichtigste zuerst: die sogenannte Zweitstimme (oder Parteistimme) entscheidet die Wahl. Wer in Nachfolge von Angela Merkel Bundeskanzler*in wird, entscheidet der Bundestag, und wie der zusammengesetzt wird, entscheiden wir nach sogenannter Verhältniswahl mit der Parteistimme. Wenn wir also die Wahl des Bundeskanzlers irgendwie beeinflussen wollen, müssen wir hier ansetzen. Deshalb konzentrieren wir uns zunächst darauf.

Wenn eine Partei theoretisch die Hälfte der Zweitstimmen bekommt, erhält sie auch jeden zweiten Sitz im Bundestag (das nennt man übrigens „Oberverteilung“, mehr dazu unten). Damit es eine Partei in den Bundestag schafft und ihre Zweitstimmen gewertet werden, muss sie allerdings entweder mindestens fünf Prozent der Stimmen bekommen, oder sie muss drei Wahlkreise direkt gewinnen (siehe unten).

Es gibt eine Ausnahme davon: nationale Minderheiten sind von dieser Sperrklausel ausgenommen. Auf den Südschleswigschen Wählerverbund (SSW), die Partei der dänischen Minderheit, trifft das zu. Sie treten erstmals seit 1961 wieder bei der Bundestagswahl an.

Wer mit seiner oder ihrer Stimme nicht nur beeinflussen will, wer Bundeskanzler*in wird, sondern auch noch eine bevorzugte Koalition in die Regierung wählen möchte, wird enttäuscht sein: beides lässt sich nur schwer bewerkstelligen. Es gibt so viele Koalitionsmöglichkeiten wie noch nie zuvor.

Strategisches Wählen

Der inzwischen verstorbene Parteienforscher Peter Mair unterscheidet beim Wahlverhalten zwischen „expressive“ und „instrumental voting". Etwas holprig auf Deutsch übersetzt: Ausdrückendes Wählen bedeutet, die Partei zu wählen, die den eigenen Überzeugungen, Ansichten und Meinungen am nächsten steht. Strategisches Wählen wiederum bedeutet, mit der Stimme ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen. Im Falle des Bundestages bedeutet das vor allem, dass man eine bestimmte Koalition als Regierung unterstützen (oder auch verhindern) möchte.

Diesen Ansatz des strategischen Wählens hat sich auch Rico Grimm vom Online-Magazin Krautreporter zu eigen gemacht. Er hat für verschiedenste Wahlstrategien analysiert, welche Parteien man sinnvollerweise wählen muss:



Der Spickzettel für strategische Wähler*innen. Foto: Krautreporter


Erststimme ist Wahlkreisstimme

Mit dieser Personenstimme wählt ihr eine Kandidatin oder einen Kandidaten bei euch vor Ort, genauer gesagt in dem Wahlkreis, in dem ihr wohnt. Wer dort die meisten Stimmen bekommt, ist automatisch mit einem Direktmandat im Bundestag – egal, wie das Ergebnis drumherum aussieht. Deshalb wird das Wahlsystem als Ganzes auch „personalisiertes Verhältniswahlrecht“ genannt. Insgesamt gibt es 299 Wahlkreise, die in etwa dieselbe Bevölkerungszahl haben. Die restlichen Sitze werden mit Kandidierenden besetzt, die die Parteien vor der Wahl auf ihren Landeslisten aufgestellt haben.

Das überbuchte Hotel „Deutscher Bundestag“

Der Bundestag wächst aller Voraussicht nach weiter. „Weiter“? Aktuell hat der Bundestag 709 Sitze, die Mindestgröße ist das Doppelte der Direktmandate, also 598. Warum ist das so? Im Grunde kann man sich das wie ein überbuchtes Hotel vorstellen. Eine Partei bekommt mit ihren Zweitstimmen Sitze im Bundestag reserviert. Es kann aber passieren (und es passiert immer häufiger), dass „zu viele“ Kandidat*innen dieser Partei ihren Wahlkreis gewinnen. Anders als ein überbuchtes Hotel kann der Bundestag aber einfach vergrößert werden. Dadurch entsteht aber ein Ungleichgewicht mit dem Wahlergebnis nach Zweitstimmen. Das wird dann mit sogenannten Ausgleichsmandaten ausgeglichen.

Wobei: eigentlich sind es in Deutschland 16 kleine Hotels, nämlich die Bundesländer. In jedem einzelnen Hotel müssen die Buchungen für die Parteien stimmen (das nennt man auch „Unterverteilung“, als zweiten Schritt nach der oben erwähnten Oberverteilung). Wenn in einem Hotel etwas aus dem Gleichgewicht gerät, muss überall mit Ausgleichsmandaten angebaut werden. Neuerdings gibt es zwar eine Regel, dass innerhalb der Partei mit dem Überhang die Sitze ein Stück weit verrechnet werden (das heißt, dass in einem anderen Bundesland ein Sitz für die Partei gestrichen wird, der ansonsten über die Liste besetzt wird).

Das ist allerdings erstens begrenzt, damit das regionale Gleichgewicht nicht allzu sehr aus den Fugen gerät. Und zweitens funktioniert das nicht, wenn die CSU Überhangmandate gewinnt: rechtlich ist sie nämlich eine eigene Partei mit ca. fünf Prozent aller Stimmen bundesweit, und im Übrigen Direktmandatssieger in allen Wahlkreisen in Bayern. Entsprechend groß ist der Hebel: pro CSU-Überhang wächst der Bundestag um ca. 20 Sitze.

Nach aktuellen Schätzungen könnte der nächste Bundestag zwischen 700 und 900 Sitzen haben, theoretisch sind sogar über 1000 Sitze möglich. Im Parlamentsviertel werden bereits Bürocontainer aufgebaut. Immerhin soll die im Bundestag kürzlich eingerichtete „Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit“ bis Mitte 2023 einen Bericht mit Reformvorschlägen vorlegen.

Reformoptionen

Neben Diskussionen etwa über das Wahlalter und die Dauer der Legislaturperiode wird es dabei ganz zentral um verschiedene Vorschläge zur Verkleinerung des Parlaments gehen. Eine Möglichkeit wäre natürlich, die Wahlkreise zu vergrößern und folglich ihre Anzahl zu senken (eine Senkung von 299 auf 280 ist bereits vereinbart). Damit würde man zwar die Direktmandate und die Wahrscheinlichkeit für Überhang senken, aber die Entfernungen für einen Abgeordneten in seinem Wahlkreis würden sich weiter vergrößern. Das würde den Kontakt zu den Wahlkreisabgeordneten und allgemein den Kontakt zwischen Politikern und der Bevölkerung weiter erschweren. Schon jetzt ist der größte Wahlkreis Deutschlands, „Mecklenburgische Seenplatte II – Landkreis Rostock III“, mehr als doppelt so groß wie das Saarland.

Man könnte auch über Wahlkreise nachdenken, in denen mehrere Kandidierende gewählt werden: so machen es bereits Spanien und Irland. Eine weitere Möglichkeit wäre, das australische Modell für Wahlkreise einzuführen, bei dem mit Durchnummerieren und sukzessivem Aussortieren der schwächsten Kandidierenden in einem einzigen Wahlgang eine Siegerin oder ein Sieger mit absoluter Mehrheit bestimmt wird. Die Hoffnung dahinter ist, dass die Bedeutung der Wahlkreise steigt und sie sich gleichmäßiger auf die Parteien verteilen. Allerdings ist es schwierig, das Wahlverhalten der Wähler*innen bei einer solchen Änderung vorherzusagen.

Ein Modell mit wenig Aussicht auf Erfolg ist das Grabenwahlrecht, auf das unter anderen in Ungarn und Russland setzen. Hier werden die Direktkandidat*innen und die restlichen Sitze im Parlament einfach getrennt voneinander behandelt und nicht verrechnet. Eine Partei mit vielen Direktmandaten hätte hier einen klaren Vorteil. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass andere Parteien eine solche Reform unterstützen würden.

Man sieht: die Reformkommission hat eine schwierige Aufgabe vor sich. Je größer der nächste Bundestag nach der Wahl am 26.9. wird, desto höher ist der öffentliche Druck. Mit eurer Stimme entscheidet ihr über die nächste Regierung mit – und ganz nebenbei – auch über die Größe des Parlaments.

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