Was verbindet zehn Familien aus der EU, Kenia und Fidschi mit einem schwedischen Jugendverband? Sie klagen gemeinsam gegen die Verletzung ihrer Grundrechte durch die unzureichende Klimapolitik der EU. Ihre Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit, Gesundheit und Eigentum werden bereits beim aktuellen Stand des Temperaturanstiegs um ca. 1 Grad Celsius verletzt. Das bestehende EU-Klimaziel für 2030 kann die Kläger*innen nicht ausreichend schützen. Daher fordern sie einen wirksameren Grundrechtsschutz und eine ambitioniertere Klimaschutzpolitik, die mit Menschen- und Grundrechten kompatibel ist. Der Fall ist auch als der People’s Climate Case bekannt und wird seit 2018 von der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch e.V., Climate Action Europe (CAN) und Protect the Planet sowie der Rechtsanwältin Dr. Roda Verheyen und Prof. Gerd Winter betreut.
Erste Erfolge im Kampf gegen europäische Klimaschäden
Neben der People’s Climate Case haben zwei weitere Präzedenzfälle in Europa in den letzten Jahren neue Impulse für den Klimaschutz gegeben. Zum einen wurde im Fall Huaraz, die Klage des peruanischen Bergführers Saúl Luciano Lliuya, erstmals von einem deutschen Gericht anerkannt, dass Unternehmen für Klimaschäden, auch im Globalen Süden, haften müssen. Zum anderen hat Urgenda, eine niederländische NGO, von 2015 bis 2019 eine Klimaklage vor Gericht gebracht. Es ist die erste der Welt, in der das höchste nationale Gericht einen Staat rechtlich dazu verpflichtet hat, Emissionen auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Das Gericht kritisierte außerdem, dass bisherige Maßnahmen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, was Auswirkungen auf die Gerichtsurteile in gut 40 weiteren Ländern haben könnte, die die Konvention ebenfalls unterschrieben haben.
Kämpfe für den Klimaschutz verlagern sich zunehmend in die Gerichtssäle. Weltweit wurden in den letzten 30 Jahren rund 1587 Klimaklagen initiiert, darunter 57 gegen die EU.
Anklagende Stimmen
Die Kläger*innen bilden eine internationale sowie intergenerationelle Gruppe: Bürger*innen, wirtschaftliche Akteur*innen, Nicht-Regierungsorganisationen, Bundesländer, Städte, Kommunen - sie alle klagen. Ihre Klimaklagen richten sich gegen Unternehmen, nationale Regierungen oder EU-Institutionen. Einzelpersonen werden in der Regel von NGOs und Umweltverbänden unterstützt, die die Kläger*innen betreuen und die Klage mit Öffentlichkeits- und Pressearbeit begleiten.
Vielfältige Ziele, vielfältige Ursachen
„Die Ziele von Klimaklagen sind vielfältig, denn die Ursachen der Klimakrise und ihre Auswirkungen sind es auch.“, sagt Lili Fuhr, die Referentin für internationale Umweltpolitik von der Heinrich-Böll-Stiftung im Interview mit treffpunkteuropa.de. Sie erklärt, dass es um mehr als nur die unmittelbare Durchsetzung der Interessen der Kläger*innen geht. Einige Klagen, erzählt Fuhr, schreiben Rechtsgeschichte und bringen Klimagerechtigkeit strategisch voran. Andere hingegen zielen darauf ab, dass Regierungen beispielsweise die Klimaziele des Pariser Abkommens umsetzen. Neben den Regierungen werden auch Konzerne angeklagt, die “die Produktion und Förderung von fossilen Brennstoffen drosseln oder einstellen” sollen. Wiederum andere wenden sich gegen Klimamaßnahmen, die beispielsweise Landrechte oder Rechte indigener Bevölkerungen angreifen.
Lili Fuhr zeigt anhand der Beispiele, dass die Klagen auf ganz verschiedenen Ebenen - national, regional, international ansetzen und Druck auf politische, wirtschaftliche sowie private Akteur*innen ausüben sollen. Dabei sollen die Verursacher*innen den Betroffenen des Klimawandels eine finanzielle Unterstützung bieten. Es geht auch darum, bestehende Gesetze zu verändern, neue Gesetze einzuführen oder geplanten Vorhaben, die den Klimaschutz oder fundamentale Rechte beeinträchtigen können, entgegenzuwirken. Nicht zuletzt soll auf eine Dringlichkeit der Rechtsfortbildung aufmerkam gemacht werden, die den Zugang zu europäischen Gerichten für Klimabetroffene vereinfacht.
Klimaschutz, ein Menschenrecht
Die Klimaklagen beruhen auf dem Verständnis, dass der Klimawandel menschengemacht ist und somit bestimmte Personengruppen, seien es politische Akteur*innen oder auch Unternehmen, zur Rechenschaft für ihre Klimaschäden gezogen werden können. Gestützt werden die Klagen durch den wachsenden Klimaforschungszweig im Bereich der Zuordnungsforschung. Die gerade einmal 6 Jahre alte wissenschaftliche Disziplin untersucht vereinfacht gesagt, die Ursachen von Extremwetterereignissen. Dabei werden mögliche Wetterszenarien von heute mit möglichen Wetterszenarien in einer Welt ohne menschengemachten Klimawandel verglichen.
Aus Sicht vieler Kläger*innen ist Klimaschutz auch Menschenrechtsschutz, der eingeklagt werden darf, so Rechtsanwältin Roda Verheyen. Zum einen müssen Verlust und Schädigungen durch den Ausstoß von Treibhausgasen, die Grundrechte von Individuen untergraben, eingestellt werden. Zum anderen sollten Verursacher*innen für den Schutz der Gefährdeten und die auftretenden Schäden aufkommen.
Wie du die EU verklagen kannst
Individuen versuchen zunehmend, die Verursacher*innen des Klimawandels rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Wenn Einzelpersonen oder Unternehmen infolge einer Handlung oder Untätigkeit einer EU-Institution Schaden erlitten haben, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Entweder sie beschreiten den nationalen Rechtsweg und die Rechtssache gelangt per Umweg, beispielsweise über das Vorabentscheidungsverfahren, vor die europäischen Gerichte oder sie wenden sich direkt an die europäischen Gerichte.
Das europäische Gericht (EuG) fällt Urteile über Nichtigkeitsklagen von Einzelpersonen, Unternehmen und in einigen Fällen EU-Institutionen. Als oberstes rechtsprechendes Organ der EU befasst sich der europäische Gerichtshof (EuGH) dagegen mit Anträgen auf Vorabentscheidungen von nationalen Gerichten, bestimmten Nichtigkeitsklagen und Berufungen. So können beispielsweise Verfassungsbeschwerden in Deutschland an den europäischen Gerichtshof weitergeleitet werden.
Mit einer Nichtigkeitsklage, die auf Artikel 263 AEUV basiert, wird die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Handlungen oder Rechtsakten der Unionsorgane gefordert, die zum Ziel hat, eben jene als rechtswidrig zu erklären. Mit einer Amtshaftungsklage nach Artikel 340 AEUV können Kläger*innen gegen Schäden vorgehen, die aus einer rechtswidrigen Handlung der EU-Institutionen resultieren.
EU hat Angst vor Klageflut
Um allerdings vor dem europäischen Gericht klagen zu dürfen, müssen die Kläger*innen nachweisen, dass sie durch eine Handlung oder Untätigkeit der EU direkt und individuell betroffen sind. Ob die Kläger*innen individuell betroffen sind, wird auf der Basis der sogenannten Plaumann-Formel entschieden, welche auf einem Urteil aus den 1960er Jahren basiert. Sie besagt, dass das entscheidende Kriterium die Einzigartigkeit und Exklusivität der Betroffenheit darstellt. Damit liegt eine individuelle Betroffenheit vor, wenn der angegriffene Rechtsakt die Kläger*in „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn*ihr aus dem Kreise aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt“.
Dadurch soll augenscheinlich verhindert werden, dass das europäische Gerichtssystem von einer Welle an Klagen überschwemmt wird und an Handlungsfähigkeit verliert. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass es deutlich schwieriger ist, Zugang zu den europäischen Gerichten zu finden, als auf nationaler Ebene zu klagen. Insbesondere in Bezug auf Klimaschäden wird die Plaumann-Formel zum Problem: Oftmals sind nicht nur Individuen, sondern eine Vielzahl an Personen von den Schäden betroffen, sodass ihnen die Klagebefugnis abgesprochen wird. Das stellt Klagen in Bezug auf Umweltrecht vor einen quasi unmöglichen Test, erklärt Mariolina Eliantonio, Professorin für Europäisches und vergleichendes Verwaltungsrecht und -verfahren an der juristischen Fakultät der Universität Maastricht. Durch die Notwendigkeit, individuelle Betroffenheit vorzuweisen, verweigere der europäische Gerichtshof den EU-Bürger*innen Zugang zu den Gerichten in Umweltfragen fast vollständig.
“Dabei geht es allein um die Klärung der Zulässigkeitsfrage”
Dementsprechend wurde die Klage des People’s Climate Case in erster Instanz aufgrund der mangelnden individuellen Betroffenheit durch das europäische Gericht abgewiesen. Daraufhin haben die Kläger*innen ein Rechtsmittelverfahren beim europäischen Gerichtshof eingereicht und die Überprüfung der Entscheidung des europäischen Gerichts veranlasst. Das Europäische Parlament und der Rat haben bereits eine Abweisung der Klage auch in zweiter Instanz beantragt. Auch im Rechtsmittelverfahren geht es alleine um die Klärung der Zulässigkeitsfrage und noch nicht um die Forderungen der Kläger*innen hinsichtlich einer ambitionierteren Klimapolitik: „Bislang hat sich das Verfahren nur mit sehr technischen und noch nicht mit inhaltlichen Fragen befasst”, sagt Caterina Freytag, Referentin für Klimaschutzklagen bei Germanwatch e.V., im Interview mit treffpunkteuropa.de.
Gefangen zwischen nationalen und europäischen Gerichten
Das Europäische Parlament und der Rat schlagen in ihrer Reaktion auf die Rechtsmittelschrift einen teuren und wenig erfolgreichen Umweg vor: Das Einklagen schärferer Emissionsreduktionen vor nationalen Gerichten. Diese könnten unter Umständen den europäischen Gerichtshof zu einem Urteil auffordern. Die Professorin Mariolina Eliantonio sieht solch einen Verweis auf europäischer Ebene statistisch gesehen als unwahrscheinlich an. Um eine Reduktion der gesamten EU-Emissionsmenge zu erreichen, müssten die Kläger*innen außerdem gegen alle 27 Mitgliedstaaten der EU Klage erheben. Zudem sind nationale Gerichte nicht dazu verpflichtet, die Einhaltung der europäischen Klimaziele vom europäischen Gerichtshof überprüfen zu lassen.
Die Entscheidungen des Europäischen Parlaments und Rates wirken paradox, so Professor Gerd Winter, ein Rechtsvertreter der klagenden Familien. Mit insgesamt 429 Pro-Stimmen, 225 Gegenstimmen und 19 Enthaltungen wurde im November 2019 der Klima- und Umweltnotstadt vom Europäischen Parlament ausgerufen. Damit fordern sie zum einen eine schärfere Einhaltung der Klimaziele, und gleichzeitig erschweren sie den Kläger*innen die Einforderung von Klimaschutz, gebunden an die europäische Grundrechte, vor den EU-Gerichten.
EU weist Verantwortung von sich
Professorin Mariolina Eliantonio zufolge ist eine Neuinterpretation der Kriterien der individuellen und direkten Betroffenheit notwendig, um Zugang zum europäischen Gerichtssystem in Umweltfragen zu gewährleisten. Die derzeitige Auslegung sei unverhältnismäßig restriktiv, da es andere Möglichkeiten gebe, den Zugang zu den Gerichten zu regulieren. In einigen Mitgliedstaaten können NGOs beispielsweise vor Gericht ziehen, wenn sie sich einer Prüfung unterziehen und in ein entsprechendes Register eingetragen sind. In anderen Mitgliedstaaten müssen sie nachweisen können, dass die angeklagte Problematik, beispielsweise eine Klage mit Bezug auf Biodiversität, in ihren Kerninteressen liegt. Dabei müsste die EU in Sachen Umwelt- und Klimaklagen eine Vorreiterrolle übernehmen, um Betroffenen der Klimakrise auch auf europäischer Ebene Gehör zu verschaffen.
Was können Klimaklagen trotzdem auf europäischer Ebene bewirken?
Klimaklagen beeinflussen den Klimaschutz mehr als nur auf juristischer Ebene. Nach dem Prinzip “Kooperation, wo möglich, Konfrontation, wo nötig”, sind Klimaklagen nur eines von vielen Instrumenten des Klimaschutz- und Menschenrechtsaktivismus, sagt Caterina Freytag, Referentin für Klimaschutzklagen bei Germanwatch e.V. “Klimaklagen sind dabei rechtliche und rechtsbasierte Instrumente, die eingebettet in politische Strategien und Kampagnen Wirkung entfalten können”, so Lili Fuhr von der Heinrich-Böll-Stiftung. Auf diese Weise stärken sie Solidarität unter den Betroffenen und generieren öffentliche Aufmerksamkeit für die globale Klimakrise.
Trotz mehrfacher Abweisungen können Klimaklagen politische Wirkung zeigen: So hat sich das Europäische Parlament in seiner Position zum Klimaschutz inhaltlich den Forderungen der People’s Climate Case genähert. Ablehnungen einer Klage auf europäischer Ebene führen oftmals dazu, dass auf den nationalen Rechtsschutz verwiesen wird. Dadurch werden Klimaklagen auf nationaler Ebene gestärkt.
Nun beschloss die Europäische Kommission, dass die im europäischen Green Deal formulierten Ziele im neuen EU-Klimagesetzes rechtlich verankert werden. Dies kann einen positiven Beitrag dazu leisten, dass Kläger*innen die EU-Institutionen und Mitgliedsstaaten vor Gericht für ihre Klimaschutzambitionen verantwortlich machen können. Damit repräsentiert das neue EU-Klimagesetz mit dem angepassten Ziel zwar einen enormen Fortschritt, allerdings ist es immer noch nicht mit dem Pariser Klimaabkommen kompatibel. Dennoch zeigt die Veränderung auf europäischer Ebene, dass die Kläger*innen des People’s Climate Case mit ihren Forderungen richtig liegen. Bereits 2018 argumentierten sie, dass höhere Klimaziele für 2030 notwendig und umsetzbar sind.
Doch es bleibt ein fundamentales Problem: Die aktuelle Auslegung der individuellen Betroffenheit ist nicht kompatibel mit der globalen Dimension des Klimawandels. Dies führt dazu, dass auf europäischer Ebene keine*r dagegen vorgehen kann, auch wenn alle davon betroffen sind. “Hier bedarf es dringend einer neuen, zeitgemäßen Leseart. Eine Rechtsfortbildung ist überfällig”, fordert Caterina Freytag.
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