treffpunkteuropa.de: Die EU hat sich seit 1957 von Grund auf verändert. Ist diese Geschichte aus heutiger Sicht immer noch eine Erfolgsgeschichte?
Mercedes Bresso: Tatsächlich hat die Europäische Union von heute nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem wirtschaftlichen Konstrukt, das 1957 in Rom angepeilt wurde. Nach dem Vertrag von Maastricht wurde sie politisch. Die Union behauptet sich auch heute natürlich noch als wirtschaftlicher Akteur, aber auch als politischer und diplomatischer. Aus einer historischen Perspektive ist die Union ein Erfolg, weil sie Trägerin eines menschlichen und sozialen Fortschritts ist. Nun ist es an uns, die politischen Herausforderungen unseres Jahrzehnts anzunehmen, um die Grundsteine für den Erfolg von morgen zu legen.
Von Anfang an war die Union eher von einer funktionalistischen Logik geprägt, welche die wirtschaftliche Integration priorisierte, wohingegen andere Bereiche in großen Teilen intergouvernemental blieben. War dieser Weg Ihrer Meinung nach der richtige, und wird er es bleiben?
Ich bin überzeugte Föderalistin. Ich glaube felsenfest an die funktionalistische Logik als solche, die impliziert, dass Entscheidungen zunächst nach einer kollektiven Logik getroffen werden, bevor nationale Ansätze in die Bewertung einfließen. Ich bin dennoch gleichzeitig eine Realistin, die genau weiß, dass nicht jeder meine Ansicht teilt, dass die Europäische Union ihre vorrangigen Ziele des Friedens und des Wohlstands nur in einer tatsächlich starken föderalen Union erreichen kann und dass sie nur mit einem ordentlichen, konsequenten eigenen Budget wirklich fähig ist, den Bürgererwartungen zu entsprechen.
Der dreifachen Krise, die wir heute noch durchleben - Schuldenkrise, Migrationskrise und strategischen Krise - sind wir bis heute nur mit intergouvernementalen Ansätzen entgegengetreten, die sehr unzulänglich waren, um sicher zu stellen, dass die Union nicht zerbricht. Ich bin absolut sicher, dass Lösungen zunächst einmal die ganze EU umfassen müssen, wenn wir wirkliche Antworten geben wollen. Dennoch bedeutet dies kurzfristig große Entwicklungen in den institutionellen Praktiken, wie ich sie derzeit in meinem Parlamentsbericht über die optimale Nutzung der Verträge darstelle, und mittelfristig eine Änderung der Verträge, um die Union auf zufriedenstellendere, föderale Weise mit Werkzeugen zum Regieren auszustatten, die das kollektive Interesse fördern, um Blockaden der Mitgliedsstaaten zu vermeiden, die auf rein nationalen Interessen beruhen.
Der Vertrag von Lissabon enthält noch die Unterscheidung zwischen intergouvernementaler und supranationaler Logik innerhalb der europäischen Institutionen, mit dem Rat, der die Mitgliedstaaten repräsentiert, und dem Parlament, in dem sich die Parlamentarier gemäß ihrer politischen Orientierung zusammenfinden. Stellt diese Unterscheidung ein Hindernis für die Vertiefung der europäischen Integration dar?
Ja und nein, denn die politischen Logiken sind auch im Rat vorhanden und die nationalen Logiken findet man auch im Parlament in bestimmten Delegationen, die über ihre Fraktion hinaus klar nationale Interessen vertreten. Wenn die Union sich in Richtung einer anderen politischen Form entwickeln soll, die föderaler wäre, wären diese beiden Elemente genauso vorhanden. Die Teilstaaten, welche die Mitgliedstaaten werden würden, würden noch immer versuchen, ihre Interessen aufzuwerten, und die Abgeordneten, unabhängig von ihrer politischen Heimat, würden die Interessen ihrer Regionen vertreten. Das wirkliche Hindernis liegt nicht dort, sondern beruht meiner Ansicht nach auf dem Fehlen eines wirklichen parlamentarischen Systems in der Union, welches sich nur umsetzen ließe, mit der Entwicklung eines Zwei-Kammer-Systems, mit einer Kammer der Mitgliedstaaten und einer Kammer der Vertreter der europäischen Bürger.
Sprechen wir über die Institutionen der EU : Trotz der Zunahme seiner Kompetenzen bleibt das Europäische Parlament im Vergleich mit nationalen Parlamenten ein relativ schwaches Parlament. Man könnte sagen, dass dies zur Effizienz der Arbeit der Kommission beiträgt, da das Parlament sich nicht einmischt. Ist dies also ein vernünftiges Ungleichgewicht?
Ohne Initiativrecht wird das Europäische Parlament ganz offensichtlich nie ein wirkliches Parlament sein. Die Kommission muss dieses Recht schrittweise abgeben, um uns ein wirkliches Initiativrecht zu geben, bei gleichzeitiger Unterstützung durch die Dienste der Kommission.
Die Idee einer separaten Regierung für die Eurozone ist nie wirklich verschwunden. Denken Sie, dass dies eine interessante Möglichkeit sein könnte, die Auswirkungen der Währungspolitik besser zu handhaben und zu kontrollieren?
Als gebürtige Italienerin und überzeugte Europäerin glaube ich nicht allzu sehr an die Tugend der Exekutive. Im Gegenteil glaube ich, dass ein vollendetes parlamentarisches System eine optimale Kontrolle und demokratische Repräsentation ermöglicht. Also: Nein zu einer Regierung für die Eurozone. Die Frage ist tatsächlich weniger die einer Regierung für die Eurozone, sondern vielmehr die der demokratischen Legitimität von gemeinsam getroffenen Entscheidungen, die direkt die europäischen Steuerzahler und Bürger betreffen. Die zentrale Frage ist also zu wissen, wie wir die Parlamentarisierung, der mit dem Euro zusammenhängenden Fragen, erreichen und welches Modell wir dazu wählen sollen. Ich persönlich neige zu einer solchen Struktur innerhalb des Rahmens des Europäischen Parlaments, selbst wenn andere Modelle auch interessant sein könnten, wie etwa die Idee einer geteilten Kammer mit nationalen Parlamenten, für welche die Souveränität in Haushaltsentscheidungen eine große Priotität bleibt.
Obwohl die Verträge Petitionen vorsehen, haben die Bürger oft den Eindruck, dass eine sehr große Distanz zwischen „Brüssel“ und „ihnen“ liegt. Ist eine bessere Beteiligung der Bürger auf europäischer Ebene wünschenswert? Und wenn ja, wie kann man eine solche Bürgerpartizipation fördern?
Es ist demagogisch zu sagen, dass alles vom Volk und den Bürgern gelöst werden kann, insbesondere bezüglich sehr technischer Fragen, wozu sich nicht zwingend jeder äußern kann. Es ist außerdem genauso technokratisch zu sagen, dass fundamentale Fragen nicht von den Bürgern wahrgenommen werden können. Die Förderung der Bürgerbeteiligung ist eine Herausforderung und basiert auf einer Frage, die erstaunlicherweise kaum auf nationalem Niveau gestellt wird, wo sich die Bürger selbst für politische Fragen interessieren. Ich würde demnach gern daran erinnern, dass man Interesse und Partizipation nicht künstlich schaffen kann. Bürger engagieren sich nur in Kämpfen, in denen sie glauben, dass sie gehört werden und die politische Entscheidungsfindung beeinflussen können. Wenn die Union Kompetenzen besitzt, können die Bürger an sie herantreten. Das ist offensichtlich der Fall bei Handelsverhandlungen. Wenn sie keine hat, fragt niemand danach, benutzt sie aber gern als nützlichen Sündenbock, den man als intransparent verurteilt. Um auf Ihre Frage zu antworten: Die Union hat Mittel der Partizipation entwickelt, insbesondere die europäische Bürgerinitiative, deren Niveau weltweit einmalig ist. Jetzt liegt es an den Bürgern, diese Instrumente zu nutzen.
Was halten Sie von der Idee, europäische Fragen durch europäische Referenden zu lösen?
Ich habe seit Langem eine familiäre und persönliche Beziehung zur Schweiz und dementsprechend auch Sympathie für ihre Erfahrung mit der direkten Demokratie. Diese Erfahrung ist nicht einmalig für die Schweiz und lässt sich einfach auf andere europäische Staaten übertragen. Ich bin hin-und hergerissen, denn, was auch immer die Frage zu Europa ist, die gestellt wird, die Antwort wird niemals die sein, die man für die europäische Frage erwartet, sondern diejenige, die im Rahmen nationaler Kampagnen definiert wird, die von den nationalen Parteien beeinflusst wurde und schließlich für oder gegen die amtierende Regierung ausgelegt wird. Grundsätzlich bin ich der Idee dennoch vollkommen zugeneigt.
Obwohl der Verfassungsvertrag 2005 gescheitert ist, fordern viele Föderalisten heute eine neue europäische Verfassung – haben sie recht?
Ich kenne und teile teilweise diese Forderung. Dennoch würde ich sagen, dass man nicht um jeden Preis eine Verfassung um der Verfassung willen haben muss. Unsere Verträge schaffen, gemäß dem Gerichtshof, schon jetzt eine verfassungsmäßige Ordnung. Was die Verfassung interessant macht, ist das bürgerliche Engagement, welches sie legitimieren könnte. Ja, in diesem Sinne brauchen wir eine neue Verfassung. Aber dennoch müssen wir aufpassen: Wenn wir ein politisches Projekt wollen, müssen wir auch die Normen des gemeinsamen Marktes lockern, mit denen wir zu weit gegangen sind. Für viele Bürger ist die Union in erster Linie die Krümmung von Bananen, und wenn wir ein politisches Projekt wollen, müssen wir diese Attitüde nachhaltig überwinden.
Welches institutionelle Projekt soll die EU Ihrer Ansicht nach auf kurze Sicht umsetzen?
Einen Konvent, der die Diskussion für und mit den europäischen Bürgern eröffnet, damit sie ganz legitim entscheiden, was die Union werden soll.
Frau Bresso, wir danken Ihnen für das Interview.
Die Fragen für treffpunkteuropa.de formulierte Gesine Weber.
Kommentare verfolgen: |