Die Eingliederung der neuen Länder in die Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 hat nicht nur Zustimmung hervorgerufen, gerade im Herbst 1989, als es sich bei der Eingliederung noch um ein bloßes Zukunftsprojekt handelte. Der damalige französische Präsident Mitterand stand an der Spitze der Unzufriedenen, oder zumindest der Skeptiker*innen.
Seit dreißig Jahren sind durch die Öffnung der französischen Archive nach und nach immer mehr Dokumente zugänglich, die es Historiker*innen ermöglichen, die Reaktion der französischen politischen Klasse in der Zeit zwischen dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung nachzuvollziehen. In seinem Buch „Mitterrand, l’Europe et la réunification“ macht Daniel Vernet deutlich, dass diese Dokumente eine Reihe an Missverständnissen zwischen Kohl und Mitterand aufzeigen, die auch die deutsch-französische Freundschaft überschatteten.
Verdacht auf beiden Seiten
Hélène Miard-Delacroix untersucht diese Spannungen in „L’unification allemande et ses conséquences pour l’Europe, 20 ans après“. Mitterrand habe befürchtet, die Wiedervereinigung schaffe ein neues « Großdeutschland », das den Kontinent beherrschen wolle. Kohl selbst habe diese Ängste durch seinen Zehn-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung vom 28. November 1989 befeuert: Der damalige Bundeskanzler stellte diesen Plan zur großen Überraschung Europas im Alleingang vor; nicht einmal Mitterrand hatte er im Vorfeld informiert. Damit sieht der französische Präsident seinen Verdacht endgültig bestätigt.
Am 6. Dezember 1989 gibt ein Treffen Mitterrands mit dem damaligen Staatschef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, in Kiew Anlass für ein weiteres Missverständnis. Die beiden Politiker tauschen sich über die deutsche Frage, den Mauerfall und die bevorstehende Wiedervereinigung aus. Kohl und viele andere in Deutschland sehen dieses Treffen ganz besonders kritisch: Es scheint, als wollten die Sowjetunion und Frankreich an ihrer Stelle über Deutschland entscheiden, auch um die Großmachtambitionen Frankreichs aufrechtzuerhalten. Damit ist für einen Teil des politischen Deutschland Mitterrands Ziel klar: die deutsche Wiedervereinigung aufzuhalten, oder zumindest zu verlangsamen.
Das europäische Projekt – der wahre Grund der Spannungen?
Letztlich verschwinden diese Befürchtungen in Deutschland und Frankreich im Laufe des Jahres 1990, nach mehreren Treffen zwischen dem französischen Präsidenten und dem deutschen Bundeskanzler. Trotzdem hinterlässt die Episode einen bitteren Nachgeschmack in den bilateralen Beziehungen, auch über die Frage der Wiedervereinigung hinaus. Doch mehr als um bilaterale Spannungen geht es wohl auch um das europäische Projekt. Mehrere Monate vor dem Mauerfall hatte Mitterrand Deutschland dazu gedrängt, die europäische Integration zu beschleunigen, insbesondere durch die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Kohls Priorität war hingegen die Entwicklung einer politischen Union. Die Wiedervereinigung vertiefte die Meinungsverschiedenheit und weckte bei Mitterrand die Befürchtung, Deutschland wolle das europäische Projekt verlangsamen und sich stattdessen auf seine innenpolitischen Belange konzentrieren.
Die Öffnung der französischen Archive erlaubt es, einen neuen Blick auf Frankreichs ambivalente Haltung zur Wiedervereinigung zu werfen, die manche als versteckte Ablehnung interpretiert haben. François Mitterrand hatte sich schon immer für dieses Problem interessiert und es bereits 1981 nach seinem Amtsantritt mit Kohls Vorgänger, Helmut Schmidt, erörtert. Für den französischen Präsidenten gab es damals keinen Zweifel, dass die Wiedervereinigung nur eine Frage der Zeit war, und sicher sogar schneller kommen würde, als die beiden Kanzler es sich hätten vorstellen können. Für François Mitterand war dies der natürliche Lauf der Dinge.
Kommentare verfolgen: |