Herr Oettinger, die Kommission in Brüssel ist wohl die unscheinbarste Institution in Europa, die jedoch viel Gestaltungsmacht hat. Wie arbeitet es sich in einem Gremium mit 28 Akteuren aus 28 Nationen?
Europa ist multikulturell. Mit ihren 28 Kommissaren ist die Kommission ein Abbild dieser Vielfalt und der unterschiedlichen nationalstaatlichen Interessen. Die Kommissare haben zwei Aufgaben. Zum einen haben sie ein Dossier, ein thematisches Aufgabengebiet – bei mir zum Beispiel die Energie. Aber der Kommissar hat auch eine zweite Aufgabe. Er muss in Brüssel erklären, wie der jeweilige Mitgliedstaat tickt, wo es rote Linien gibt, welche Gefahren durch Urteile von den Gerichten, wie Karlsruhe, ausgehen und was im Bundestag mehrheitsfähig ist. Beim Thema Energie habe ich bei Barroso volle Freiheiten. Aber oft fragt er mich zu Themen Europas, welche Rolle sie in Deutschland einnehmen.
Der Europäische Rat ist so etwas wie die Zweite Kammer Europas, vergleichbar mit dem Bundesrat in Deutschland. Die Staats- und Regierungschefs fliegen aber nur alle acht Wochen an, wir hingegen haben wöchentliche Sitzungen, sind jeden Tag in Brüssel. So muss ich einerseits die Europäische Union in Deutschland vertreten, andererseits auch die deutsche Position in Brüssel erklären, zum Teil auch die Interessen Deutschlands wahrnehmen.
Genauso wichtig ist mir aber auch mein Dossier, die Energie.
Dann widmen wir uns jetzt Ihrem Fachgebiet. Kritiker der Großen Koalition sehen die Energiewende in Deutschland durch den Koalitionsvertrag bereits abgeschafft. Verliert Deutschland in Europa nach und nach seine Position als Vorreiter bei den Erneuerbaren Energien? Welchen Einfluss hat das auf die europäische Energiepolitik?
Wir haben das klare Ziel, dass wir bis 2020 die CO2-Emmissionen um 20 Prozent senken und den Anteil der Erneuerbaren und die Energieeffizienz um 20 Prozent steigern wollen. Hier ist Deutschland auf Kurs. Wir in Deutschland haben jetzt ein neues Thema und das heißt: bezahlbarer Strom. Der Aufbau volatiler erneuerbarer Energien stößt an seine Grenzen. Wind- und Solarstrom können nur produziert werden, wenn die Sonne scheint oder der Wind weht. Doch wie kann man trotzdem die Grundlast sichern? Hierzu braucht man weiterhin traditionelle Kraftwerke.
Andere Staaten haben das Problem bezahlbarer Energien schon viel früher in den Fokus gerückt und vor allem in Gas- und Atomkraftwerke investiert, um die Klimaziele auch ohne Erneuerbare zu erreichen. Wenn Deutschland von seinen ehrgeizigen Zielen abrückt, ist das dann ein Signal an den Rest der Union, dass sie es auch nicht schaffen können?
Wir haben die Erneuerbaren im Schweinsgalopp eingeführt. Das EEG war ein tolles Gesetz in den ersten Jahren bei nur einem geringen Anteil an Erneuerbaren. Jetzt wird zum Teil aufgerüstet, ohne die nötigen Netze oder passenden Speicher zur Verfügung zu haben. Deswegen braucht man an allen Orten, wo gerade keine Sonne scheint oder Wind weht, eine Backup-Strategie, eine doppelte Infrastruktur. Neue volatile Energien können also nur da gefördert werden, wo es eine hinreichende Infrastruktur oder Speichermöglichkeiten gibt.
Eine nationale Energiewende hingegen muss schiefgehen, vor allem wenn sich die anderen Mitgliedstaaten verwundert zurücklehnen. Die Energiewirtschaft muss langfristig ohne Subventionen auskommen. So sind Onshore-Windkraftanlagen bereits marktfähig, die Stromerzeugung offshore hingegen ist noch nicht ausgereift und braucht Unterstützung bei der technologischen Entwicklung. Denn die Energieforschung ist das A und O. Bis 2050 wird es in diesem Bereich gewaltige Veränderungen geben.
Für wie realistisch halten Sie dann die Umsetzung der Klimaziele in Europa insgesamt?
Das beobachten wir in der Kommission ganz genau. Doch wir liegen im Plan.
Immer wieder wird deutlich, dass aufgrund fehlender Kompetenzen die europäische Energiepolitik von anderen Ressorts politisch gestaltet und umgesetzt wird. So ist die Energiepolitik stark von den Beschlüssen des Klimaressorts, besonders im Hinblick auf die europäischen Klimaziele, aber auch von dem Umwelt- und dem Wettbewerbskommissar abhängig. Können Sie sich damit als Energie-Kommissar zufrieden geben?
Die Kommissare wirken auf jeden Fall mit. Aber meine Generaldirektion hat zum Beispiel die Forderungen zur Energieeffizienz mit in die Klimaziele hineingebracht. Daran sieht man, dass die Ressorts sich auch gegenseitig ergänzen.
Außerdem will ich als Kommissar strategisch wichtige Netze in Europa entwickeln und besonders die Staaten an das europäische Netz anschließen, die in der Peripherie liegen. Dazu treffen sich demnächst auch die Energieminister der Union für das Mittelmeer. Wir in der Generaldirektion erarbeiten paneuropäische Netzkarten, um eine europaweite Energieplanung, auch über die Mitgliedstaaten der EU hinaus, zu ermöglichen.
Wo sehen Sie Europa im Jahr 2030?
Ich würde mir wünschen, dass alle Länder des Westbalkans, also des ehemaligen Jugoslawiens, Mitglied der Europäischen Union sind und wir ehrlich mit der Türkei reden und ihnen die Möglichkeit der Mitgliedschaft geben. Ich hoffe, dass die Ukraine eine Demokratie sein wird und mit der EU zusammenarbeitet und trotzdem ihre historischen, sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten mit Russland nicht vergisst. Meine Hoffnung für Europa reicht von Lissabon bis Wladiwostok und Russland wird ein Teil Europas sein.
In 2030 werden wir die Vereinigten Staaten von Europa haben, aber vielleicht nicht so, wie wir sie von den USA kennen, sondern eher wie in Deutschland mit seinen Bundesländer. Es gibt zehn, zwölf Themen in Europa, die müssen von Europa allein entschieden werden. Aber nicht in allen kleinen Angelegenheiten muss sich Europa einmischen.
Dieser Artikel erschien zuerst am 14. Dezember im Move-Magazin.
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