Erhitzte Gemüter

, von  Marco Bitschnau

Erhitzte Gemüter
Unabhängigkeitsbefürworter auf der Straße vor der Regionalwahl in Katalonien im September. © Day Donaldson / Flickr / CC BY 2.0-Lizenz

Die katalanische Regierung will die Unabhängigkeit - und riskiert damit eine Verfassungskrise. Nun hat sich der Oberste Gerichtshof in die Auseinandersetzungen eingemischt. Seine Prüfung der Sachlage könnte den Beteiligten nun vor allem die Möglichkeit geben, trotz verhärteter Fronten in einen erneuten Dialog einzutreten und einen Kompromiss zu finden.

Wird der Traum wahr?

Das Statement des spanischen Verfassungsgerichtes, des Tribunal Constitucional, war ebenso nüchtern wie eindeutig: Der „Beginn des Unabhängigkeitsprozesses“ in der mit Sezession liebäugelnden Region Katalonien sei bis auf Weiteres suspendiert, urteilten die elf Richter. Sie hatten damit einem Eilantrag der Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy stattgegeben, die das Abspaltungsbestreben der katalanischen Regionalregierung für verfassungswidrig hält. Die zeigte sich davon wenig beeindruckt und kündigte sogleich an, dennoch an ihrer Roadmap zur Unabhängigkeit festzuhalten; ein offener Affront gegenüber der Judikative, die sich wiederum zu einer konsternierten Warnung veranlasst sah. Am Ende lagen die Nerven bei den Akteuren in Madrid und Barcelona gleichermaßen blank. Ein Hinweis darauf, dass es längst nicht mehr nur um Gedankenspiele zur Autonomie der wirtschaftsstarken Region zwischen Pyrenäen und Ebrodelta geht, sondern um die konkrete Machtbalance zwischen dem Gericht, der Regierung Rajoy und dem instabilen Separatistenbündnis um Regierungschef Artus Mas. Die Kernfragen dabei: Scheitert der Traum von der katalanischen Unabhängigkeit doch noch am energischen Widerstand aus der Hauptstadt? Bleibt er trotz all der Referenden, Abstimmungen und Proklamationen eben doch nur ein Traum ohne Aussicht auf Verwirklichung?

Rechtliche Bedenken...

Vieles spricht zumindest dafür. Vor allem juristisch, denn die 1978 in Kraft getretene Verfassung des Königreichs Spanien proklamiert schon in ihrem zweiten Artikel die „unauflösliche Einheit der spanischen Nation“. Zwar wird im Folgesatz auch die hohe Bedeutung der Regionen anerkannt, auf die Vielfalt der unterschiedlichen Identitäten verwiesen und dem Pluralismus das Wort geredet - aber an keiner Stelle wird je in Frage gestellt, ob sich dieser Pluralismus wohl auch jenseits der Herrschaft der Rojigualda verwirklichen ließe: Spanien ist Spanien und Spanien bleibt geeint. Die Katalanen wollen sich der Eindeutigkeit dieser Rechtsnormen allerdings so schnell nicht beugen; stattdessen argumentieren sie mit dem gängigen Prinzip vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Nach ihrer Lesart dürfe der spanische Staat einer Region schlichtweg nicht verbieten, ihren eigenen Weg zu gehen. Zumindest dann nicht, wenn sich eine Mehrheit für diesen Weg finden ließe. Und schon im Vorfeld der umstrittenen Volksbefragung 2014 hatte die Regierung Mas freimütig verkündet, dass das Votum der Wähler für sie immer Rechtskraft besitze, auch wenn die Abstimmung nicht Abstimmung sondern nur Befragung heißen darf. Man darf indes kaum erwarten, dass das Verfassungsgericht dieser Argumentation folgen wird. Stattdessen wird es wohl ein weiteres Mal der Regierungsposition Recht geben und die Unabhängigkeitsbestrebungen als klaren Verstoß gegen die staatliche Ordnung werten. Sollten die separatistischen Kräfte ein solches Urteil ignorieren, dann würden sie die wohl markanteste europäische Verfassungskrise der letzten Jahrzehnte wissentlich heraufbeschwören. Ab diesem Punkt wäre wohl alles möglich, von einem Einschreiten von Polizei und Militär gegen die Aufrührer bis hin zur tatsächlichen Unabhängigkeitserklärung unter dem lautstarken Protest eines erzürnten Spaniens.

... und politische Folgen

In jedem Fall wären zahlreiche Probleme und Verwerfungen vorprogrammiert, auch auf dem internationalen Parkett. Ein sich unilateral und im Streit abspaltendes Katalonien wäre nämlich zunächst de jure weiterhin Teil Spaniens und dürfte kaum auf internationale Anerkennung stoßen. EU-Kommissionspräsident Juncker nannte eine etwaige einseitige Erklärung bereits unmissverständlich ein Dokument „ohne jeden rechtlichen Wert“. Sie würde weder von der Kommission noch von den Mitgliedstaaten anerkannt werden. Und selbst wenn die Madrider Regierung am Ende des Tages nachgeben und die Abtrünnigen ziehen lassen würde, so wäre die Region immer noch nicht viel mehr als ein isolierter Fleck auf der Landkarte Westeuropas mit bedenklichen Perspektiven: Die Mitgliedschaft in EU, Euroraum und NATO wäre hinfällig und bei Gegnerschaft Restspaniens nur schwer bis unmöglich wiederzuerlangen. Die Wirtschaft würde einbrechen, die Arbeitslosigkeit steigen, das Bankensystem in Bedrängnis geraten und selbst der FC Barcelona als Flaggschiff katalanischer (Ball-)Kultur sähe sich mit einem Ligaausschluss konfrontiert. Genug potentielle Fallstricke also, um die Unabhängigkeitseuphorie binnen kürzester Zeit in eine handfeste Katerstimmung zu verwandeln. Aber auch die Europäische Union befände sich urplötzlich in einer kniffligen Lage. Nicht nur würde das sich auf dem Weg der ökonomischen Gesundung befindliche Spanien wohl ein weiteres Mal in die Rezession abrutschen und eine Wiederkehr der Eurokrise befeuern, nein, man müsste auch um ein Wiedererstarken sezessionistischer Kräfte in Flandern und Korsika, Südtirol und Andalusien, Venezien und dem Baskenland fürchten. Kräfte, die in Zeiten der Unruhe eine unmittelbare Bedrohung der eigenen Handlungsfähigkeit darstellen.

Zurück an den Gesprächstisch

Letztlich wäre also allen Beteiligten damit geholfen, verbal abzurüsten und an den Gesprächstisch zurückzukehren wo, wie das Beispiel Schottland trefflich gezeigt hat, durchaus kluge und überzeugende Kompromissvorschläge erarbeitet werden können. Die Zeitspanne, die sich das Verfassungsgericht bis zu einer vorläufigen Entscheidung nehmen wird, kann in dieser Hinsicht gut als Verschnaufpause genutzt werden, um die erhitzten Gemüter wieder abzukühlen. Die Alternative, also ein Weiterführen des bisherigen Konfrontationskurses wäre dagegen höchst beunruhigend. Sollte die katalanische Regierung nämlich die Unabhängigkeit um jeden Preis erzwingen wollen, dann würde sie damit die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Legalität ad absurdum führen und sich - mit den Worten des Historikers Miguel Perfecto - „trügerisch und illegal“ verhalten. Sollte das Kabinett Rajoy dagegen seinen verfassungsrechtlichen Trumpf überreizen und allzu unversöhnlich auftreten dann wird der katalanische Konflikt auch mittelfristig weiter schwelen und Bevölkerung wie Investoren in Sorge versetzen. Für beide Parteien ist also ein vertrauensvoller Dialog unerlässlich, um mehr zu erreichen als nur einen kurzfristigen und unbefriedigenden Pyrrhussieg. Und vielleicht kommt man durch diesen Dialog ja zu der Einsicht, dass es im Europa des 21. Jahrhunderts auch Möglichkeiten jenseits von Status Quo und Unabhängigkeit gibt. Es müssen nicht immer die Extreme sein.

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