Als im März die ersten chinesischen Mediziner*innenteams im von Corona schwer erschütterten Italien ankamen und Masken, Schutzkleidung und Medikamente mitbrachten, bedankte sich Außenminister Luigi Di Maio mit den unmissverständlichen Worten: „Es gibt noch Leute, die Italien helfen wollen“. Das war kein angenehmer Seitenhieb für die EU. Zur selben Zeit hatte Deutschland – wie die meisten europäischen Länder auch – bereits alle Grenzen zu den Nachbarstaaten geschlossen und den Export von medizinischer Schutzausrüstung stark eingeschränkt. Auch Frankreich fing Atemschutzmasken auf den Weg ins Ausland ab. In einer Krise, die den gesamten europäischen Kontinent betraf, sah sich Italien plötzlich alleingelassen. Die Hilfe der chinesischen Regierung kam gerade gelegen.
Aber nicht nur Italien erhielt chinesische Unterstützung. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić wand sich in einem Brief direkt an den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping und bat um Hilfe. Er warf der europäischen Solidarität vor, ein „Märchen auf dem Papier“ zu sein und bemängelte die fehlende Unterstützung durch Medizingüter seitens der Union. Serbien ist seit 2012 EU-Beitrittskandidat, hat zudem aber auch einen guten Draht zu China – eine Beziehung, die nun durch die chinesische Unterstützung enger werden dürfte. In den weiteren Wochen und Monaten zeigte sich China auch in anderen Ländern der EU als helfende Hand, darunter in Spanien und Frankreich. Die Interpretationen der chinesischen Unterstützung sind vielfältig: Sicherlich waren sie eine Reaktion auf die Unterstützung, die einzelne europäische Länder in die Volksrepublik schickten, als die Corona-Krise in Europa noch kaum mehr als ein fernes Gerücht war. Sicherlich war es auch eine Demonstration geopolitisch-strategischer Interessen Chinas, zudem ein Versuch, die aufkommende Kritik rund um den Mangel an chinesischer Transparenz zu ersticken.
Doch genauso sicher steht fest: Die europäische Freundschaft hat in diesen ersten, entscheidenden Wochen und Monaten der Pandemie ein Stück von ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Chinas staatliche Nachrichtenagentur Xinhua teilte in Bezug auf die Unterstützung einzelner EU-Staaten nicht ohne leisen Vorwurf mit: „Ein Freund in der Not ist ein wahrer Freund“. Die Not war zu diesem Zeitpunkt in den meisten europäischen Ländern groß, in Italien war sie an der Grenze zum Unaushaltbarem. Doch die helfende Hand Europas verbarg sich irgendwo hinter improvisierten Grenzzäunen und war kaum spürbar.
Die ersten Wochen: Abschottung, Grenzschließungen, Hilferufe
Die nationalen Alleingänge waren, wenn man so will, ein Reflex. Jedes EU-Land hatte diese Krise zu überwältigen und jede Regierung sieht sich stets in erster Linie ihren eigenen Bürger*innen verpflichtet. Doch waren neben diesem Blick auf das eigene Land auch unschöne Entwicklungen zu beobachten: Auf der einen Seite standen Länder wie Deutschland oder Österreich - Länder, die Erkrankte und Tote zu beziffern hatten, aber eben auch Länder, die relativ solide Gesundheitssysteme haben. Und die von ihren südlichen Nachbar*innen, die Wochen vor ihnen bereits Corona-Patient*innen zu melden hatten, lernen konnten schnell zu reagieren, Kontakte zu beschränken und unermüdlich zu testen.
Auf der anderen Seite: die südlichen Länder wie Italien. Was in Hotspots wie Bergamo geschah, schien in anderen Regionen Europas wie aus einer anderen Welt, wie aus einer Dystopie. Dabei geschah es gleich nebenan, die den Nachbar*innen. Die Hilferufe der Bevölkerung und der Regierung waren kaum zu überhören. Im April wandte sich der italienische Regierungschef Giuseppe Conte mit einem Appell in der ZEIT an deutsche Leser*innen. Seine Worte waren deutlich: Wo bleibt die europäische Solidarität? Wo bleibt die wirtschaftliche Unterstützung? Wo bleibt der Freund, der Retter in der Not?
Diese Fragen stellte sich nicht nur Italien, sondern bald auch ganz Europa. Die Europäische Union wurde primär gegründet, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau voranzutreiben, doch mittlerweile hat sie auch strukturelle, politische und gemeinschaftliche Ziele. Eines dieser Ziele ist, in allen Mitgliedsstaaten die Lebensverhältnisse anzugleichen. Lange Zeit bezog sich das auf rein ökonomische Aspekte, auf die Stärkung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Doch die Pandemie hat auch gezeigt: Es geht um stabile Gesundheitssysteme, ausreichend Schutzkleidung sowie schnelle Kommunikation von Fällen und materieller Engpässe. Das ist ein Feld, das ebenfalls in das Krisenmanagement der EU fällt, aber erst durch die Corona-Krise voll ausgeleuchtet wurde.
Europaweite Solidarität nach wochenlanger Funkstille
Dass Grenzschließungen, Exportverbote und nationale Alleingänge die Union extrem schwächten, merkten dann auch die einzelnen Länder. Bereits Ende März nahm Sachsen schwererkrankte Corona-Patient*innen aus Italien auf – einer eindringlichen Bitte der italienischen Regierung folgend. Später wurden auch französische und niederländische Patient*innen auf deutsche, österreichische, belgische und luxemburgische Intensivstationen verlegt. Europäische Ärzt*innenteams flogen nach Italien, an Bord Beatmungsgeräte, Masken und Schutzkleidung. Das 2001 verabschiedete EU-Katastrophenschutzprogramm kam zum Einsatz: Im März wurde beschlossen, Reserven von Schutzbekleidung, Medikamente und Labormaterial anzulegen – für den Fall, dass ein Land an die Grenzen seiner Bewältigungskapazitäten stößt. Dem Programm folgten rasch alle Mitgliedsstaaten und wurde bald unter anderem unterstützt von den EU-Beitrittskandidaten Serbien, Nordmazedonien, Türkei.
Die ersten Schritte waren noch vorsichtig. Kein Land konnte wissen, ob es sich nicht in nächster Zeit zu einem ähnlichen Hotspot wie Norditalien entwickeln könnte. Anderen Staaten zu helfen wurde abgewogen mit dem Risiko, am Ende selbst mit weniger Kapazitäten dazustehen – oder mit mehr Fällen. Die Monate vergingen, die Lage in Ländern wie Deutschland stabilisierte sich, doch Länder wie Italien litten weiterhin. Deswegen begann die EU-Kommission Anfang Mai, zehn Millionen Schutzmasken aufzukaufen und zu horten. Je nach Bedarf und Möglichkeit wurden die Masken an medizinisches Personal in 17 Mitgliedsstaaten und in Großbritannien verteilt. Nach wochenlanger Funkstille meldete sich die europäische Solidarität mit großen Zahlen zurück: 2,2 Millionen Masken aus französischer Eigenproduktion wurden ins Ausland exportiert, 2400 medizinische Spezialanzüge wanderten von Frankreich nach Italien. Deutschland schickte den italienischen Nachbar*innen Hilfsgüter im Umfang von fünf Tonnen. Tschechische Unternehmen und Universitäten arbeiteten an 3D-Druckvorlagen für Gesichtsschilder und Atemschutzgeräte, die sie für anderen Mitgliedsstaaten frei zur Verfügung stellten.
Europa soll zukunftsgerichtet denken - aber eben auch europäisch
Während die Phase der europaweiten Solidarität heiß lief, tat das auch der deutsch-französische Motor: Bereits im Mai diskutierten Angela Merkel und Emmanuel Macron einen wirtschaftlichen Wiederaufbauplan für die EU. Der Corona-Hilfsfonds ist nicht nur ein mutiger Schritt, er ist auch historisch: Dass die Union zusammen Schulden aufnimmt, um einen Wiederaufbau für alle Länder zu ermöglichen, ist keine Selbstverständlichkeit. 750 Milliarden Euro kostet die europäische Solidarität, die Freundschaft, die in der bittersten Not nicht verschwindet, sondern vielleicht sogar neu erblüht. Bei einem Treffen mit Macron Ende Juni bekräftigte Merkel: „Wir kommen alle aus verschiedenen Ländern, aber nur in der europäischen Gemeinschaft werden wir stark sein und unsere Rolle in der Welt spielen können.
Eine Umsetzung des Plans dürfte sich denkbar schwierig gestalten. Es herrscht Uneinigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten, auf welcher Datengrundlage die Entscheidung basieren sollte, wie viel welchem Land zusteht. Die sogenannten Sparsamen Vier - Österreich, Schweden, Niederlande, Dänemark - halten prinzipiell nicht viel davon, gemeinsam Schulden zu machen, und präsentieren einen Gegenvorschlag: einen einmaligen Notfallfonds, der schnellstmöglich zurückgezahlt werden soll. Wenn die Corona-Hilfe bis Ende des Jahres durch alle nationalen Parlamente durchgewunken werden soll, muss noch im Sommer eine klare Entscheidung innerhalb der Union fallen.
Nichtsdestotrotz: Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Vor allem, weil der Hilfsfonds gekoppelt sein soll an nachhaltige, grüne und digitale Projekte. Die Botschaft ist deutlich: Europa soll zukunftsgerichtet denken - aber eben auch europäisch. An den nationalen Abschottungen hat kein Land etwas dazugewonnen. Nach der Finanz- und Eurokrise fiel es der Union nicht leicht, wieder auf die Beine zu kommen, der Glaube an die innere Solidarität hatte Abstriche erlitten. Wachsender Populismus und Nationalismus bestärkten Kritik an der EU. Heikle Themen wie die Frage nach dem Umgang mit Russland, die Asylpolitik oder auch die Klimakrise (die übrigens immer noch existiert) drohten, die Union zu spalten und ineffizient zu machen. Deswegen ist es umso wichtiger, während der Pandemie eng zusammen zu arbeiten. Sowohl der Zwang, Hilfe von außen abweisen zu müssen, als auch der Zwang, sich an andere Mitgliedsstaaten wenden zu müssen, weil ein Mitglied selbst sich zurückgelassen fühlt, haben dabei nicht weitergeholfen.
Die europäische Idee ist nur so stark wie der Zusammenhalt zwischen den Mitgliedsstaaten. Sie fundiert auf Gemeinsamkeit, Solidarität und Unterstützung – kurzum, auf Freundschaft. Nicht umsonst lautet das Motto der EU: „In Vielfalt vereint“. Die Corona-Krise steht symbolisch für all die vergangenen, momentanen und zukünftigen Krisen, die einzelstaatlich nicht zu lösen waren und dies auch nicht sein werden. Die Krise ist eine Herausforderung, immer noch. Sie ist aber vielleicht auch eine Chance für die europäische Freundschaft, sich zu festigen. Die zwischenstaatlichen Aufnahmen von Patient*innen, das Anlegen großer Kapazitäten innerhalb des EU-Katastrophenschutzprogrammes und schließlich der momentan diskutierte Hilfsfonds demonstrieren ein Europa, das Solidarität und Zusammenhalt neu definiert. War die Union vor der Pandemie geschwächt durch vorangegangene Krisen, den Austritt Großbritanniens und wachsenden Populismus, steht sie momentan vor einer Herausforderung, die so groß ist, dass sie die Unterstützung untereinander und füreinander unerlässlich macht. Insbesondere die Erfahrung, dass nationale Abschottungen nicht die Lösung sein können und Zweifel an der europäischen Freundschaft wecken, dürfte eine der bisher wichtigsten Lehren aus der Pandemie sein. Die andere lautet: Eine Freundschaft, die in Zeiten von Not nicht verschwindet, hat gute Aussichten, noch lange zu bestehen.
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