Bilder und Nachrichten von überfüllten Geflüchtetenlagern an der griechisch-türkischen Grenze sind nichts Neues. Doch dieses Mal ist es anders: „Moria brennt“ - So beginnen die ersten Tweets in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Das größte Geflüchtetenlager Europas auf der griechischen Insel Lesbos – auch Dschungel genannt – liegt in Schutt und Asche.
Die pure Verzweiflung in Moria
Schreiende Menschen und meterhohes Feuer sind auf einer Vielzahl von Bildern und Videos im Netz zu sehen. 12 600 Menschen verlieren binnen weniger Stunden ihr ohnehin nur prekäres Zuhause. Am folgenden Abend: Das Lager brennt erneut in ähnlichem Ausmaß – nun ist sicher, dass das Lager endgültig zerstört wurde.
Die Lage in Moria war seit der Bestätigung der ersten Corona-Fälle im Camp eskaliert, doch die genauen Ursachen des Brandes sind noch immer unklar. Die griechische Regierung geht von Brandstiftung aus und so wurden immer wieder Spekulationen laut, die Brände seien von Bewohner*innen des Lagers selbst gelegt worden. Einige beschrieben, Lagerbewohner*innen hätten Feuerwehrleute bei der Arbeit behindert.
Kleinere Brände, Aufstände und Konflikte gab es in Moria immer wieder. Der italienische Psychiater Alessandro Barberio kümmert sich in Moria im psychosozialen Dienst um Geflohene mit psychischen Problemen und Erkrankungen und erzählt bento von den hohen Suizidraten: „Es ist die pure Verzweiflung, die man in den Augen der Menschen sieht“. Der Psychiater erzählt von sexuellem Missbrauch, Schlägereien, Diebstählen. Besonders auffällig ist die hohe Suizidrate bei Kindern, eine Ärztin von Ärzte ohne Grenzen berichtet im Handelsblatt von einem siebenjährigen Patienten, der mehrmals versuchte, sich das Leben zu nehmen.
Mit der Anspannung, die sich mit der Ausbreitung des Coronavirus breit machte, wurde die Lage noch explosiver: Das ohnehin bestehende Leid wurde nun zusätzlich von einem tödlichen Virus bedroht. Neben der Angst vor der unkontrollierten Ausbreitung des Virus ist es auch die Angst vor dem Abgeschnittensein von der ohnehin geringen Hilfe. Hinzu kam, dass die humanitäre Hilfe bereits seit einigen Monaten stark zurückgefahren wurde, unter anderem aufgrund von rechten Übergriffen auf NGOs und Journalist*innen, bis die Hilfe fast unmöglich wurde.
Eine Chronik des Versagens?
Viele Hilfsorganisationen, Politiker*innen und auch Bewohner*innen von Lesbos fühlen sich bestätigt. Sie warnten bereits vor Monaten vor einer Katastrophe. Dass die Lage in den Lagern auf den griechischen Inseln seit Jahren menschenwidrig ist, war längst bekannt. Ein Beispiel, das die Überforderung verdeutlicht: Eine einstige Aufnahmestelle, die zuerst in ein Camp für knapp 2 800 Menschen umfunktioniert wurde und dann zuletzt auf etwa 12 600 Geflüchtete wuchs, lässt vermuten, unter welch prekären Umständen Menschen dort ausharren müssen.
Mit dem Hashtag #WirHabenPlatz fordern Demonstierende die Evakuierung Morias und Aufnahme der Geflüchteten in Deutschland. Foto: zur Verfügung gestellt von Julia Bernard
Schon lange bevor sich das Coronavirus in Europa ausbreitete, waren die Zustände in Moria dramatisch. Forderungen nach Evakuierungen, welche in geringer Zahl auch immer wieder stattfanden, gab es bereits vor der Pandemie. Doch als die EU-Staaten sich im Frühjahr mit den Herausforderungen des Virus konfrontiert sahen, daraufhin Grenzen schlossen und Ausgangssperren verhängten, wurden die Stimmen immer lauter: Auch die Geflüchteten an Europas Außengrenzen dürften nicht vergessen werden. Die griechische Regierung erließ zwar einen Katalog für das Corona-gerechte Verhalten in Einrichtungen für Geflüchtete, konkrete Evakuierungspläne, Coronatests, Konzepte für Social Distancing blieben aber aus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Pandemie auch Moria erreichen würde.
Die erste bestätige Infektion wurde vergangene Woche bekannt. Mit der verhängten Quarantäne brach Panik aus. Am Dienstag waren es 35 Infizierte in Moria, viele andere wollten das Lager verlassen. Doch verlassen konnte das Lager kaum jemand: Ein Zaun und die hohe Polizeipräsenz machten es fast unmöglich. Ohne fließendes Wasser und auf engstem Raum zusammenlebend war wohl niemand schlechter für die Bekämpfung der Pandemie ausgestattet als die Bewohner*innen des Lagers.
Die Schwierigkeit europäischer Lösungen
Was in Moria passiert, geht Europäer*innen dringend etwas an. Nicht nur, weil es den Grundpfeilern der europäischen Gemeinschaft widerspricht, Menschen in solch einem Elend leben zu lassen. Sondern auch, weil die Brände sinnbildlich für eine in vielerlei Hinsicht absolut unzulängliche Asylpolitik der EU stehen.
„Moria auf der griechischen Insel Lesbos war nicht irgendein Camp. Hier wollte die Europäische Union ihre Flüchtlingspolitik neu erfinden“, schrieb der Spiegel. Moria war der Ort, an dem das „Flüchtlingsabkommen“ zwischen der EU und der Türkei umgesetzt werden sollte. Menschen sollten hier nur kurz bleiben und dann auf schnellstem Weg ihren Asylantrag stellen. Moria sollte dem Elend, das während der europäischen Asylkrise 2015/16 zu sehen war, ein Ende setzen. Doch statt einer humanen Lösung wurden die Lager zu Gefängnissen, aus denen die Bewohner*innen weder zurück in die Türkei noch weiter nach Nordeuropa reisen können. Clara Föller aus dem Bundesvorstand der Jungen Europäischen Föderalisten fomuliert es folgendermaßen:
Die Unfähigkeit der EU-Mitgliedsstaaten, menschenwürdige Asylpolitik zu finden, bedroht nun unmittelbar die Leben der schutzsuchenden Menschen.
— Clara Föller (@JEF_de) September 9, 2020
Erik Marquardt, Mitglied des Europäischen Parlaments als Teil der Fraktion Die Grünen/EFA, schrieb, „Europa hat versagt. Aber auch Deutschland versagt“. Wie bei so vielen Blockaden in der EU hieß es immer wieder: Man brauche eine europäische Lösung. Nur wenn alle mitziehen, könne man etwas tun. Insbesondere in Deutschland hieß es immer wieder: Man wolle einen erneuten deutschen „Alleingang“ vermeiden. Und so sehr dieses Ringen um europäische Lösungen wichtig ist, so führt es doch immer wieder zu genau einer Sache: dem Stillstand, dem Nicht-Handeln, dem Zusehen und Wegsehen, durch den Moria erst in Flammen aufgehen konnte.
Reform des EU-Asylsystems dringend nötig
Dass nun Evakuierung und Umsiedlung gefordert werden, ist absolut notwendig. Der junge Freiburger Kommunalpolitiker Simon Sumbert findet bei der öffentlichen Kundgebung der Seebrücke in Freiburg klare Worte:
Wichtig ist aber auch, was darüber hinaus verändert werden muss, sodass es in Zukunft nicht erst zu derartigen Eskalationen kommen muss, damit gehandelt wird. Punktuelle Aufnahmeaktionen sind wichtig und für die aktuelle Situation in Moria unerlässlich. Dennoch braucht es grundsätzliche Lösungen.
– Das Dublin-System ist gescheitert. Die schnelle Bearbeitung von Asylanträgen auf den griechischen Inseln oder in Italien funktioniert nicht. Die Staaten an den Außengrenzen der EU mit dem Problem allein zu lassen, ist unsolidarisch und führt nur zu Überforderung. Die Lasten müssen verteilt werden. Europa muss also Menschen aufnehmen - und das auf koordinierte Art und Weise. Das EU-Asylsystem, welches nun während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft reformiert werden soll, braucht endlich klare Verteilungsmechanismen.
– Dem Kompetenzwirrwarr muss ein Ende gesetzt werden. Die deutsche Kanzlerin Merkel sagte in einer Podiumsdiskussion am Donnerstag: „Wir können nicht zufrieden sein mit einer europäischen Migrationspolitik. Die gibt es im Grunde heute so nicht.“
„Wir können nicht zufrieden sein mit einer europäischen Migrationspolitik. Die gibt es im Grunde heute so nicht.“
— Steffen Seibert (@RegSprecher) September 9, 2020
Dass es heutzutage so schwierig ist, Reformvorschläge durchzubringen und damit so einfach, sich aus der Verantwortung zu ziehen, liegt auch daran, dass es keinen klaren Kompetenzrahmen gibt. Weder die Europäische Union noch die Nationalstaaten allein sind für Migrations- und Asylfragen zuständig. Hinzu kommen starke nationale Narrative von „überforderten“ Mitgliedstaaten, wie Italien oder Griechenland, und „übervorteilten“ Ländern, wie Deutschland, das 2015 viele Geflüchtete aufnahm, dann aber „ keine Solidarität bei der Verteilung erfuhr[..], nicht einmal von Frankreich.“
– Es fehlt der EU an legalen Zuwanderungswegen. Die EU hat sich dazu bekannt, ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem anzustreben, welches das internationale „Flüchtlingsrecht“ beachtet. Die Realität zeichnet aber meist eben ein ganz anderes Bild: Migrations- und Asylpolitik ist zur Grenzkontrollenpolitik geworden. Die EU gibt viel Geld für den Schutz ihrer Außengrenzen aus und nicht genug für legale und humane Wege der Einwanderung. Abschottungsmaßnahmen mit der hohen Zahl an Zuwanderung zu legitimieren, ist zu kurz gedacht. Auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration (SVR) forderte, „reguläre Zuwanderungswege“ auszubauen. Die Vorsitzende des Sachverständigenrates Petra Bendel rief dazu auf, mehr Geld für legale Wege auszugeben: „Derzeit wendet die EU etwa doppelt so viel Geld dafür auf, ihre Außengrenzen zu sichern und irreguläre Migration zu reduzieren, [als] sie für den Asyl- und Migrationsfonds ausgibt, der die Bereiche Asyl, legale Migration, kurzfristige Integrationsmaßnahmen und Rückführungen umfasst", sagte sie in der Süddeutschen Zeitung. Bis zur Einführung einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik darf es außerdem keine Lösung sein, Seenotretter*innen zu kriminalisieren, Menschen die Fluchtwege zu versperren und ihnen damit letztlich das Recht auf Asyl zu nehmen.
Und jetzt?
Moria ist abgebrannt. Dublin ist gescheitert. Nun stellt sich die Frage, wie sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union künftig ihrer Verantwortung in der Asyl- und Migrationspolitik stellen wollen. Wie diese Verantwortung aufgeteilt wird, ist wichtig. Doch ein erneuter Stillstand bei der Frage nach der Verteilung von Schutzsuchenden wäre fatal. Es braucht endlich ein solidarisches und funktionierendes System bei der Aufnahme von Geflüchteten. Es braucht Verteilungsmechanismen und Solidarität unter den Mitgliedstaaten und all dies ganz ohne Wartezeiten an den europäischen Außengrenzen. Denn Moria hat es gezeigt: Wer Schutzsuchende so behandelt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die nächste Katastrophe kommt.
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